4b O 25/18 – Waage mit Tragplatte II

Düsseldorfer Entscheidungsnummer: 2920

Landgericht Düsseldorf

Urteil vom 15. August 2019, Az. 4b O 25/18

  1. I. Die Beklagten werden verurteilt,
  2. 1. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 250.000,00 EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren zu unterlassen,
  3. Waagen mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage
  4. in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen,
  5. bei denen die Schaltvorrichtung einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte angeordneten Elektrode zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode aufweist, wobei die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode unter der Tragplatte angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht;
    2. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie – die Beklagten – die zu Ziffer I. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 23. September 2009 begangen haben, und zwar unter Angabe,
  6. a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
  7. b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
  8. c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,
  9. wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen und
  10. wobei vom Beklagten zu 2) sämtliche Angaben nur für die Zeit bis zum 12. Februar 2019 zu machen sind;
  11. 3. der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie – die Beklagten – die zu Ziffer I. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 17. Januar 2004 begangen haben, und zwar unter Angabe
  12. a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der Abnehmer,
  13. b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
  14. c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
  15. d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
  16. wobei
  17. – von dem Beklagten zu 2) sämtliche Angaben nur für die Zeit vom 23. Oktober 2009 bis zum 12. Februar 2019 und von allen Beklagten die Angaben zu d) nur für die Zeit seit dem 23. Oktober 2009 zu machen sind und
  18. – den Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten dessen Kosten tragen und ihn ermächtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
  19. 4. nur die Beklagte zu 1): die in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder in ihrem Eigentum befindlichen, unter Ziffer I. 1. bezeichneten Erzeugnisse an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf ihre – der Beklagten zu 1) – Kosten herauszugeben oder solche Erzeugnisse selbst auf eigene Kosten zu vernichten;
  20. 5. nur die Beklagte zu 1): die unter Ziffer I. 1. bezeichneten, seit dem 23. September 2009 in Verkehr gebrachten Erzeugnisse gegenüber den gewerblichen Abnehmern unter Hinweis auf den gerichtlich (Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom …) festgestellten patentverletzenden Zustand der Sache und mit der verbindlichen Zusage zurückzurufen, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten sowie mit der Rückgabe verbundene Zoll- und Lagerkosten zu übernehmen und die Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen.
  21. II. Es wird festgestellt,
  22. 1. dass die Beklagte zu 1) verpflichtet ist, der Klägerin für die zu I. 1. bezeichneten, in der Zeit vom 17. Januar 2004 bis zum 22. Oktober 2009 begangenen Handlungen eine angemessene Entschädigung zu zahlen;
  23. 2. dass
  24. – die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die zu Ziffer I. 1. bezeichneten, vom 23. Oktober 2009 bis zum 12. Februar 2019 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird, und
  25. – die Beklagte zu 1) allein verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die zu Ziffer I. 1. bezeichneten, seit dem 13. Februar 2019 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
  26. III. Von den Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen die Beklagte zu 1) 60 %, der Beklagte zu 2) 30 % und beide Beklagte als Gesamtschuldner 10 %. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
  27. IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 500.000,00 EUR.
  28. Tatbestand
  29. Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen Verletzung des deutschen Teils des europäischen Patents EP 1 371 XXX (Klagepatent) in Anspruch.
  30. Die Klägerin ist eingetragene Inhaberin des Klagepatents, das am 7. Juni 2003 unter Inanspruchnahme zweier deutscher Prioritäten vom 14. Juni 2002 und 27. Februar 2003 angemeldet wurde. Die Anmeldung wurde am 17. Dezember 2003, der Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents am 23. September 2009 veröffentlicht. Das Klagepatent steht in Kraft. Auf ein gegen die Erteilung des Klagepatents gerichteten Einspruch wurde das Klagepatent in beschränkter Fassung aufrechterhalten. Die geänderte Patentschrift liegt als Anlage K 1 vor. Die gegen diese Entscheidung gerichteten Beschwerden wurden zurückgewiesen. Eine das Klagepatent betreffende Nichtigkeitsklage hatte keinen Erfolg. Zuletzt wies der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 28. März 2017 (Anlage K 2) die Berufung gegen die die Nichtigkeitsklage abweisende Entscheidung des Bundespatentgerichts zurück.
  31. Das Klagepatent betrifft eine Waage. Anspruch 1 des Patents lautet:
  32. Waage (1) mit einer Tragplatte (4) zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1),
    dadurch gekennzeichnet, dass die Schaltvorrichtung (16, 24) einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte (4) angeordneten Elektrode (18, 38, 44) zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44) aufweist, wobei die Tragplatte (4) aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode (18, 38, 44) unter der Tragplatte (4) angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht.
  33. Die Beklagte zu 1) wurde bis zum 3. Juli 2018 in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft geführt. Einer ihrer Vorstände und späteren Geschäftsführer war der Beklagte zu 2), der mittlerweile aus dem Unternehmen ausgeschieden ist. Seit dem 12. Februar 2019 ist er nicht mehr als Geschäftsführer der Beklagten zu 1) im Handelsregister eingetragen.
  34. Die Beklagte zu 1) vertreibt bundesweit Personen- und Küchenwaagen, darunter Modelle mit den Bezeichnungen A, B und C, bei denen unter einer mit einem Display versehenen Tragplatte ein kapazitiver Schalter in Form einer Elek-trode angeordnet ist, über den die Waage eingeschaltet werden kann (angegriffene Ausführungsformen). Muster der angegriffenen Ausführungsform finden sich als Anlagen K 9, K 10 und K 12 bei der Akte. Eine technische Analyse eines Verletzungsprodukts liegt als Anlage K 13 vor. Im Übrigen wird für weitere technische Einzelheiten auf die Abbildungen in der Klageschrift (Blatt 8 bis 11 der Akte) Bezug genommen.
  35. Die Klägerin sieht in dem Vertrieb der Waagen durch die Beklagten eine Verletzung des Klagepatents. Soweit das Klagepatent einen kapazitiven Näherungsschalter verlange, schließe dies nicht aus, dass die Waage für den Einschaltvorgang berührt werden müsse.
  36. Die Klägerin beantragt,
  37. zu erkennen, wie geschehen.
  38. Die Beklagten beantragen,
  39. die Klage abzuweisen.
  40. Die Beklagten sind der Auffassung, das Klagepatent werde durch den Vertrieb der angegriffenen Waagen nicht verletzt, weil sich aus dem Begriff des kapazitiven Näherungsschalters und der Beschreibung des Klagepatents ergebe, dass man eine Waage nach der Lehre des Klagepatents ohne jegliche Berührung, also nur durch die bloße Annäherung an die Tragplatte einschalten können müsse. Auch der Bundesgerichtshof habe die Patentfähigkeit des Klagepatents im parallelen Nichtigkeitsverfahren nur bejaht, weil er zwischen einem kapazitiven Berührungssensor und einem kapazitiven Näherungsschalter unterschieden habe.
  41. Entscheidungsgründe
  42. Die zulässige Klage ist begründet.
  43. Die Klägerin hat gegen die Beklagten im tenorierten Umfang Ansprüche auf Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung, Vernichtung und Rückruf aus den Vertriebswegen sowie Feststellung der Entschädigungs- und Schadensersatzpflicht aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. §§ 139 Abs. 1 und 2, 140a Abs. 1 und 3, 140b Abs. 1 und 3; §§ 242, 259 BGB; Art. II § 1 Abs. 1 IntPatÜG.
  44. I.
    Das Klagepatent betrifft eine Waage mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage.
  45. In der Klagepatentschrift wird ausgeführt, dass solche Waagen im Stand der Technik bekannt gewesen seien. Es handele sich beispielsweise um elektrische Personenwaagen zum Messen und Anzeigen des Körpergewichts mit einer Schaltvorrichtung zum Ein- und Ausschalten, so dass der Bedarf an elektrischer Energie der Waage allein auf den Mess- und Anzeigevorgang beschränkt werden könne. Um den Schaltvorgang auslösen zu können, habe die Waage einen Kontaktschalter, der mit dem Fuß betätigt werden könne. Das Klagepatent sieht es jedoch als nachteilig an, dass ein solcher Kontaktschalter aufwändig zu verkabeln sei und der Benutzer zur Betätigung des Kontaktschalters genau auf den Schalter zielen müsse.
  46. Alternativ dazu – so die Klagepatentschrift weiter – sei ein Akustikschalter bekannt, der auf Schwingungen durch Antippen der Waage reagiere. Allerdings sei es von erheblichem Nachteil, dass der Schalter unkontrolliert und unerwünscht auch auf Fremdgeräusche reagiere. Weiterhin seien ständig in Betrieb befindliche Messsysteme bekannt, die über Gewichtsänderungen auf der Tragplatte aktiviert werden könnten. Nachteilig an solchen Messsystemen sei jedoch die ständige Stromaufnahme und der damit verbundene hohe Energiebedarf.
  47. Die Klagepatentschrift geht in der Einleitung ferner auf die US 4,932,XXX ein, in der eine elektronische Waage mit Kalibriergewichtsschaltung offenbart werde. Die Waage weise einen Näherungsensor auf, mit dessen Hilfe der Kalibrierungsvorgang bei Annäherung einer Person an die Waage gesperrt oder abgebrochen werden könne, bevor die Waagschale durch Wägegut belastet werden könne.
  48. In der US 4,789,XXX werde hingegen eine Analysewaage beschrieben, bei der die Funktionen im Wesentlichen über ein mechanisch arbeitendes Bedientableau aus- oder angewählt werden könnten. Allerdings sei ein Gehäuse mit einer motorisch angetriebenen Tür vorgesehen, die mit Hilfe von Näherungssensoren oder sprachgesteuerten Sensoren aktivierbar sei.
  49. Schließlich werden in der Klagepatentschrift unter anderem die DE 41 24 XXX A1 und die US 4,208,XXX genannt, aus denen ein mechanischer Schalter für eine Waage beziehungsweise allgemein ein Näherungsdetektor bekannt sei.
  50. Vor diesem Hintergrund liegt dem Klagepatent die Aufgabe (das technische Problem) zugrunde, eine Waage der eingangs genannten Art zu schaffen, die eine einfache Schaltmöglichkeit von hoher Funktionssicherheit bei gleichzeitig niedrigen Herstellungs- und Betriebskosten aufweist. Zur Lösung dieses Problems schlägt Patentanspruch 1 eine Waage mit folgenden Merkmalen vor:
  51. 1. Waage (1)
    1.1 mit einer Tragplatte (4) und
    1.2 mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24).
    2. Die Tragplatte (4)
    2.1 dient der Aufnahme einer zu wiegenden Masse,
    2.2 besteht aus einem elektrisch nicht leitenden Material.
    3. Die elektrische Schaltvorrichtung (16, 24)
    3.1 dient der Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1), die im Einschalten der Waage (1) besteht,
    3.2 weist einen kapazitiven Näherungsschalter auf.
    4. Der kapazitive Näherungsschalter weist eine Elektrode (18, 38, 44) auf.
    5. Die Elektrode (18, 38, 44)
    5.1 dient der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44),
    5.2 ist an der Tragplatte (4) angeordnet,
    5.3 ist unter der Tragplatte (4) angeordnet.
  52. II.
    Die angegriffene Ausführungsform verwirklicht sämtliche Merkmale des Klagepatentanspruchs. Mit Ausnahme des Merkmals 3.2 und der weiteren Merkmale 4 bis 5.3, soweit sie einen kapazitiven Näherungsschalter voraussetzen, steht dies zwischen den Parteien zu Recht außer Streit. Die angegriffene Ausführungsform weist aber auch einen kapazitiven Näherungsschalter im Sinne des Klagepatents auf.
  53. 1.
    Bei einem kapazitiven Näherungsschalter im Sinne des Klagepatents handelt es sich um ein elektronisches Bauteil, das bei einer durch die Annäherung eines Gegenstandes verursachten Änderung des elektrischen Feldes einen Schaltungsvorgang auslöst. Es ist nach der Lehre des Klagepatents jedoch nicht erforderlich, dass der kapazitive Näherungsschalter es ermöglicht, eine patentgemäße Waage ohne jegliche Berührung der Tragplatte einzuschalten. Die Kammer stimmt insofern der Auslegung des Oberlandesgerichts Düsseldorf im Urteil vom 6. Juni 2013 – Az. I-2 U 60/11 – zum selben Patent zu. Wegen der Einzelheiten dieser Auslegung wird auf das als Anlage K 8 vorgelegte Urteil Bezug genommen.
  54. a)
    Einem kapazitiven Näherungsschalter liegt physikalisch der Umstand zugrunde, dass sich das elektrische Feld in der Umgebung einer Elektrode ändert, wenn ein Körper mit einem eigenen elektrischen Feld in diese Umgebung bewegt wird. Die Änderung des elektrischen Feldes führt zu einer Änderung der Ladungsverteilung in der Elektrode, die von einer elektrischen Schaltung detektiert und als Auslöser für einen Schaltvorgang – nach der Lehre des Klagepatents für das Einschalten der Waage – verwendet werden kann. Eine Berührung der Elektrode ist nicht erforderlich und auch regelmäßig nicht gewollt.
  55. Diese Funktionsweise liegt auch dem im Merkmal 3.2 genannten kapazitiven Näherungsschalter zugrunde. Sie spiegelt sich – wie auch das Oberlandesgericht Düsseldorf im Urteil vom 6. Juni 2013 ausgeführt hat – nicht nur in dem Begriff „Näherungsschalter“ wider, sondern geht auch aus dem Klagepatentanspruch (Merkmal 4 bis 5.1) hervor. Vor allem aber wird in der Beschreibung des Klagepatents zu den physikalischen Zusammenhängen, wie sie soeben beschrieben worden sind, und ihrer technischen Umsetzung in einer erfindungsgemäßen Waage ausgeführt (vgl. Sp. 2 Z. 3-18; Textstellen ohne Bezugsangabe stammen aus der geänderten Klagepatentschrift, Anlage K 1).
  56. b)
    Nach der Lehre des Klagepatents ist es nicht erforderlich, dass man eine erfindungsgemäße Waage ohne jegliche Berührung der Waage einschalten können muss.
  57. aa)
    Dass sich die Waage ohne Berührung der Tragplatte einschalten lassen muss, hat in den Klagepatentanspruch keinen Eingang gefunden. Ein solches Erfordernis lässt sich auch nicht aus den Eigenschaften eines kapazitiven Näherungsschalters und den Merkmalen 4 bis 5.3 des Anspruchs mittelbar ableiten. Gemäß Merkmal 5.1 dient die Elektrode des kapazitiven Näherungsschalters der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode. Damit beschreibt der Anspruch die herkömmlichen Eigenschaften eines kapazitiven Sensors, wie sie zuvor bereits erläutert worden sind. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass auch die Umgebung der Waage dergestalt überwacht werden muss, dass sich die Waage ohne jede Berührung der Waage einschalten lässt. Merkmal 5.1 trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, dass die Elektrode des kapazitiven Näherungsschalters gemäß Merkmal 5.3 unter der Tragplatte der Waage angeordnet ist. Das heißt, zwischen der Elektrode und dem das elektrische Feld ändernden Körper befindet sich ein Dielektrikum, das eine Berührung der Elektrode ohnehin ausschließt. Wie auch das Oberlandesgericht Düsseldorf in seiner Entscheidung vom 6. Juni 2013 zutreffend ausgeführt hat, gehören die Oberfläche der Tragplatte und der Bereich darüber zu der Umgebung der Elektrode, die diese überwachen muss. Ist die Umgebung kleiner bemessen, ließe sich die Waage gar nicht einschalten. Eine Berührung der Tragplatte, um den kapazitiven Näherungsschalter betätigen und die Waage einschalten zu können, ist damit nicht ausgeschlossen.
  58. bb)
    Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Beschreibung des Klagepatents. Diese stellt explizit immer nur darauf ab, dass der kapazitive Näherungsschalter die Umgebungskapazität des Schalters bzw. der Elektrode überwacht und auf eine Annäherung von Gegenständen mit anderen dielektrischen Eigenschaften als die Umgebung des Schalters bzw. der Elektrode reagiert (Sp. 1 Z. 56 bis Sp. 2 Z. 2; Sp. 2 Z. 6-8; Z. 11-13; Sp. 3 Z. 54-Sp. 4 Z. 1). Zu Recht hat das Oberlandesgericht Düsseldorf im Urteil vom 6. Juni 2013 darauf hingewiesen, dass die Tragplatte der Waage, die zum Auslösen des Schaltvorgangs gegebenenfalls zu berühren ist, ist nicht Teil des Schalters ist, sondern zu seiner stationären Umgebung gehört. Die Annäherung an den Schalter bzw. die Elektrode schließt daher eine Berührung der Tragplatte, um den Einschaltvorgang in die Wege zu leiten, nicht aus.
  59. cc)
    Davon ausgehend erschließt sich auch der vom Klagepatent erwähnte Vorteil eines kapazitiven Näherungsschalters gegenüber den im Stand der Technik bekannten mechanischen Kontaktschalter. In der Klagepatentschrift wird ausgeführt, die erfindungsgemäße Waage sei besonders bedienungssicher, da ein genaues Treffen des Schalters, wie es bei einem mechanischen Schalter erforderlich sei, nicht notwendig sei (Sp. 2 Z. 16-19). Als Nachteil solcher Kontaktschalter sieht das Klagepatent den Umstand an, dass er sowohl aufwendig zu verkabeln ist als auch von dem Benutzer erfordert, auf eine exakt definierte Stelle der Waage – nämlich genau den Kontaktschalter – zur Schalterbetätigung zielen zu müssen (Sp. 1 Z. 14-18). Wie auch das Oberlandesgericht Düsseldorf im Urteil vom 6. Juni 2019 ausgeführt hat, ist der Begriff des Kontaktschalters nicht als Gegensatz zu einem berührungslos zu bedienenden Schalter zu verstehen, sondern als mechanischer Schalter. Während dieser für den Schaltvorgang genau getroffen werden muss, genügt für den kapazitiven Näherungsschalter jede Annäherung an die stationäre Umgebungskapazität der Elektrode, egal aus welcher Richtung und mit welchem Kraftaufwand und sei es durch eine Wischbewegung über die Tragplatte. Das sind geringere Anforderungen als die, die an die Betätigung eines mechanischen Schalters gestellt werden. In keinem Fall muss der Näherungsschalter, mithin die Elektrode, berührt werden. Die Berührung der Tragplatte ist hingegen nicht ausgeschlossen.
  60. Die Klagepatentschrift nennt weitere Vorteile des kapazitiven Näherungsschalters gegenüber dem aus dem Stand der Technik bekannten mechanischen Schalter wie die Betriebssicherheit, die geringere Verschleißanfälligkeit, den niedrigeren Energiebedarf oder die Verschmutzungssicherheit (vgl. Sp. 2 Z. 19-30). Alle diese Vorteile haben ihre Ursache in der mit dem kapazitiven Näherungsschalter verbundenen Vermeidung mechanischer Bauteile, nicht aber in einem vermeintlich berührungslosen Einschaltvorgang. Dies gilt auch für die Verschmutzungssicherheit: Nicht die Berührung als solche stellt das Problem dar. Denn als Personen- oder Küchenwaage wird die Tragplatte der Waage regelmäßig mit Schmutz in Berührung kommen. Nachteilig ist der Umstand, dass ein mechanischer Schalter sowohl mehr Bauteile als ein kapazitiver Näherungsschalter als auch bewegliche Bauteile benötigt (vgl. Sp. 2 Z. 19 f. und 24 f.) und allein aufgrund dessen störanfälliger für Verschmutzungen ist.
  61. Auch der weitere Stand der Technik, von dem sich das Klagepatent abzugrenzen versucht, führt zu keiner anderen Auslegung. Wegen der Einzelheiten kann auf das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 6. Juni 2013 Bezug genommen werden. Die Beklagten haben diesbezüglich auch keine Einwendungen erhoben.
  62. dd)
    Soweit die Beklagten meinen, der patentgemäß verlangte kapazitive Näherungsschalter sei von einem kapazitiven Berührungssensor zu unterscheiden, vermag die Kammer dem nicht zu folgen.
  63. Es ist nicht ersichtlich, dass die Begriffe kapazitiver Näherungsschalter und kapazitiver Berührungssensor in der Fachwelt mit einer feststehenden Bedeutung verwendet werden und dahingehend zu unterscheiden sind, dass der eine jede Berührung ausschließt und der andere nur auf eine Berührung der Elektrode reagiert. Abgesehen davon sagt die Unterscheidung aber auch nichts darüber aus, ob es im Falle eines kapazitiven Näherungsschalters im Sinne des Klagepatents möglich sein muss, die Waage einzuschalten, ohne die Tragplatte zu berühren. Dass die Elektrode nicht berührt werden kann, ergibt sich bereits aus dem Klagepatentanspruch. Im Übrigen gibt das Klagepatent – wie ausgeführt – keinen Anlass dafür, auch die Berührung der Tragplatte auszuschließen, um die Waage einschalten zu können.
  64. Das Klagepatent selbst verwendet den Begriff des (kapazitiven) Berührungssensors nicht. Die Auffassung der Beklagten hat ihren Ursprung vielmehr in dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 28. März 2017 im parallelen Nichtigkeitsverfahren und dem darin als Anlage K 9 vorgelegten Stand der Technik, in dem ein kapazitiver Berührungssensor oder -flecken bekannt war (vgl. S. 13 der Anlage K 2). All dies hat jedoch keinen Eingang in die Klagepatentschrift gefunden und stellt kein zulässiges Auslegungsmaterial dar. Abgesehen davon hat der Bundesgerichtshof die Patentfähigkeit des Klagepatents nicht aufgrund der Unterschiede zwischen einem kapazitiven Näherungsschalter und einem kapazitiven Berührungssensor angenommen. Stattdessen hat der Bundesgerichtshof bereits den Anlass für den Fachmann verneint, für den in der im Nichtigkeitsverfahren vorgelegten Entgegenhaltung K 8 verwendeten mechanischen Druckschalter nach Alternativen zu suchen (S. 15 der Anlage K 2). Auch der Auffassung der Nichtigkeitsklägerin, der Anlass ergebe sich aus der im Nichtigkeitsverfahren vorgelegten K 9, vermochte der Bundesgerichtshof nicht beizutreten. Vielmehr hat der Bundesgerichtshof in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass er den in der K 9 offenbarten Berührungssensor oder -flecken durchaus als kapazitiven Näherungsschalter angesehen hat (vgl. S. 15 f. der Anlage K 2). Allerdings hat es der Bundesgerichtshof für einen Anlass zur Verwendung eines kapazitiven Näherungsschalters in der Waage nach der K 8 nicht ausreichen lassen, dass kapazitive Näherungsschalter im Stand der Technik – etwa aus der K 9 – allgemein bekannt waren. Nichts anderes ergibt sich im Übrigen – wie das Oberlandesgericht Düsseldorf in seinem Urteil vom 6. Juni 2013 ausgeführt hat – aus den Entscheidungen im Einspruchsverfahren.
  65. 2.
    Ausgehend von dieser Auslegung des Klagepatentanspruchs weist die angegriffene Ausführungsform einen kapazitiven Näherungsschalter im Sinne des Klagepatents auf (Merkmal 3.2). Dass für das Einschalten der Waage gegebenenfalls die Tragplatte berührt werden muss, ist – wie ausgeführt – für die Verwirklichung der Lehre des Klagepatents ohne Belang.
  66. III.
    Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Unterlassung aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 PatG, weil sie durch den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform die Lehre des Klagepatents benutzten und dies ohne Berechtigung erfolgte.
  67. Weiterhin hat die Klägerin gegen die Beklagten dem Grunde nach einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 139 Abs. 1 und 2 PatG, weil die Beklagten die Patentverletzung schuldhaft begingen. Als Fachunternehmen hätte die Beklagte zu 1) die Patentverletzung bei Anwendung der im Geschäftsverkehr erforderlichen Sorgfalt zumindest erkennen können, § 276 BGB. Der Beklagte zu 2) haftet persönlich aus eigenem Verschulden, da er bereits kraft seiner Stellung im Unternehmen für die Beachtung absoluter Rechte Dritter Sorge zu tragen und das Handeln der Gesellschaft im Geschäftsverkehr zu bestimmen hat. Dass der Beklagte zu 2) aufgrund der internen Geschäftsverteilung auf die Patentverletzung keinen Einfluss hatte, behaupten auch die Beklagten nicht. Allerdings ist die Haftung des Beklagten zu 2) auf die Zeit bis zu seiner Abberufung als Geschäftsführer beschränkt. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass der Klägerin als Inhaberin des Klagepatents durch die Patentverletzung ein Schaden entstanden ist. Das für die Zulässigkeit des Feststellungsantrags gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ergibt sich daraus, dass die Klägerin derzeit nicht in der Lage ist, den konkreten Schaden zu beziffern und ohne eine rechtskräftige Feststellung der Schadensersatzpflicht die Verjährung von Schadensersatzansprüchen droht.
  68. Unabhängig vom Verschulden der Beklagten zu 1) hat die Klägerin gegen diese für den Zeitraum zwischen der Offenlegung der Patentanmeldung und der Patenterteilung auch einen Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung dem Grunde nach aus Art. II § 1 Abs. 1 IntPatÜG. Die Beklagte zu 1) hat den Erfindungsgegenstand genutzt, obwohl sie wusste oder jedenfalls wissen musste, dass die benutzte Erfindung Gegenstand der Anmeldung des Klagepatents war.
  69. Der Klägerin steht gegen die Beklagten auch ein Anspruch auf Rechnungslegung und Auskunft aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 140b Abs. 1 PatG, §§ 242, 259 BGB zu. Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsform ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstands unmittelbar aus § 140b Abs. 1 PatG, der Umfang der Auskunftspflicht aus § 140b Abs. 3 PatG. Die weitergehende Auskunftspflicht und die Verpflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, den ihr zustehenden Schadensersatzanspruch zu beziffern. Die Klägerin ist auf die tenorierten Angaben angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt, und die Beklagten werden durch die von ihnen verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet.
  70. Weiterhin hat die Klägerin gegen die Beklagte zu 1) einen Anspruch auf Vernichtung der angegriffenen Ausführungsform aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. § 140a Abs. 1 PatG. Die für den Vernichtungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen des § 139 Abs. 1 PatG liegen vor. Darüber hinaus hat die Beklagte zu 1) nicht in Abrede gestellt, zumindest im Besitz der angegriffenen Ausführungsform zu sein. Dies liegt bereits deswegen nahe, da die Beklagte zu 1) die Geräte vertreibt.
  71. Schließlich hat die Klägerin aus den vorgenannten Gründen gegen die Beklagte zu 1) einen Anspruch auf Rückruf der angegriffenen Ausführungsform aus den Vertriebswegen gemäß Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. § 140a Abs. 3 PatG.
  72. IV.
    Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
  73. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 ZPO.
  74. Streitwert: 500.000,00 EUR, wobei auf die gesamtschuldnerische Pflicht zur Schadensersatzleistung 100.000,00 EUR entfallen.

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