4a O 24/18 – Flexibles Gewebe

Düsseldorfer Entscheidungsnummer: 2929

Landgericht Düsseldorf

Urteil vom 17. September 2019, Az. 4a O 24/18

  1. I. Die Klage wird abgewiesen.
    II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
    III. Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
  2. T a t b e s t a n d
  3. Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen behaupteter Patentverletzung auf Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung, Rückruf, Vernichtung (nur gegenüber der Beklagten zu 3) und Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, Schadensersatz zu leisten, in Anspruch.
  4. Die Klägerin ist die im Register des Deutschen Patent- und Markenamts eingetragene Inhaberin des deutschen Teils des Europäischen Patents EP 2 027 XXX (nachfolgend: Klagepatent). Die Klagepatentschrift wurde in Anlage GW 1a zur Akte gereicht, eine deutsche Übersetzung als Anlage GW 1b. Das in englischer Verfahrenssprache verfasste Klagepatent wurde am 14.05.2007 unter Inanspruchnahme des Prioritätsdatums 12.06.2006 der EP 06253XXX angemeldet. Das Europäische Patentamt veröffentlichte am 28.12.2016 den Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents.
  5. Das Klagepatent steht in Kraft.
  6. Der geltend gemachte Anspruch 1 des Klagepatents lautet in der maßgeblichen englischen Fassung:
  7. A flexible fabric that can be set to become rigid or semi-rigid, the fabric comprising: a first face (12) having a yarn and pores (20); a second face (10) also having a yarn and pores, the second face being separated from the first face by a space (16); self-supporting pile yarns (14) extending between the first and second faces that maintain the first and second face in a spaced-apart arrangement; and a powder material comprising a cement located in the space between the first and second faces, the powder material being capable of setting to a rigid or semi-rigid solid on the addition of a liquid wherein the pores of the first face are at least partly sealed by an applied sealant, such that the size of any partly sealed pores of the first face is sufficiently small so as to retain the powder material within the space, the second face includes pores that are sufficiently small as to retain the powder material within the space but allow the passage of liquid causing the powder material to set.
  8. In deutscher Übersetzung lautet der geltend gemachte Anspruch wie folgt:
  9. Flexibles Gewebe, das abbinden gelassen werden kann, um steif oder halbsteif zu werden, wobei das Gewebe Folgendes umfasst: eine erste Fläche (12), die einen Faden und Poren (20) aufweist; eine zweite Fläche (10), die ebenfalls einen Faden und Poren aufweist, wobei die zweite Fläche von der ersten Fläche durch einen Zwischenraum (16) getrennt ist; selbsttragende Polfäden (14), die sich zwischen der ersten und der zweiten Fläche erstrecken und die die erste und die zweite Fläche in einer beabstandeten Anordnung halten; und ein Pulvermaterial, das einen Zement umfasst und das sich in dem Zwischenraum zwischen der ersten und der zweiten Fläche befindet, wobei das Pulvermaterial bei der Zugabe einer Flüssigkeit zu einem steifen oder halbsteifen Feststoff abbinden kann, wobei die Poren der ersten Fläche zumindest zum Teil durch ein aufgebrachtes Dichtmittel versiegelt werden, so dass die Größe jeglicher zum Teil versiegelter Poren der ersten Fläche ausreichend klein ist, um das Pulvermaterial in dem Zwischenraum zurückzuhalten, wobei die zweite Fläche Poren beinhaltet, die ausreichend klein sind, um das Pulvermaterial in dem Zwischenraum zurückzuhalten, jedoch den Durchfluss von Flüssigkeit zu ermöglichen, wodurch bewirkt wird, dass das Pulvermaterial abbindet.
  10. Die Klägerin ist ein britisches Unternehmen, welches das Produkt „Z“ vertreibt. Hierbei handelt es sich um ein flexibles, betonimprägniertes Gewebe, das bei Hydration zu einer dünnen, dauerhaften, wasserfesten und feuerfesten Betonschicht aushärtet.
  11. Bei der Beklagten zu 1) handelt es sich um ein polnisches Unternehmen, welches unter anderem Dichtungsmatten mit der Bezeichnung „A“ und „B“ in Deutschland anbietet und vertreibt. Diese Dichtungsmatten werden unter der Bezeichnung „C“ und „C mit Folienkaschierung“ (nachfolgend gemeinsam als angegriffene Ausführungsformen bezeichnet) durch die Beklagte zu 3) in Deutschland angeboten und vertrieben. Bei dem Beklagten zu 2) handelt es sich um den Präsidenten der Beklagten zu 1).
  12. Die beiden angegriffenen Ausführungsformen unterscheiden sich in ihrem Aufbau lediglich dadurch, dass bei der Dichtungsmatte mit Folienkaschierung an einer Seite zusätzlich eine wasserundurchlässige Folie aufgebracht ist. Beide angegriffenen Ausführungsformen bestehen aus zwei Vliesschichten. Der Vliesstoff besteht aus unregelmäßig abgelegten Fasern und weist keine Fasern auf, die versponnen sind. Es findet keine Verwebung der Fasern statt. Bei der Herstellung der angegriffenen Ausführungsformen wird zunächst auf eine der beiden Vliesschichten ein Zementgemisch und anschließend darauf die zweite Vlies-Schicht aufgebracht. Auf diese Weise entsteht ein dreischichtiger Aufbau mit dem Zementgemisch in der Mitte. Die Schichten werden sodann von einer Seite aus vernadelt. Hierdurch erstrecken sich einzelne Fasern oder Faserbündel im Wesentlichen senkrecht zu den beiden Schichten und die Enden dieser vernadelten Fasern verankern sich in der gegenüberliegenden Vliesschicht.
  13. Die Klägerin behauptet, die erste Vliesschicht der angegriffenen Ausführungsformen werde während des Herstellungsprozesses einer Wärmebehandlung mit erhitzten Walzen unterzogen, so dass sich in der ersten Fläche mindestens zwei Schichten ausbildeten. Die der Wärmequelle nächstgelegene Schicht weise eine erhöhte Kontraktion der Fasern auf, so dass die Schicht außen versiegelt sei. Ferner seien die Faserbündel, die durch die Vernadelung unstreitig im Zentgemisch stecken, selbsttragend im Sinne des Klagepatentanspruchs, da sie die beiden Schichten auf Abstand hielten. Die Faserbündel widerständen auch Druckkräften, was sich daraus ergebe, dass die Fäden nach der Entfernung des Pulvers nicht zusammenfielen und sich auch nicht im Verhältnis zueinander bewegten. Dies ergebe sich unmittelbar aus dem als Anlage GW 18 (in deutscher Übersetzung Anlage GW 18a) vorgelegten Gutachten.
  14. Die Klägerin ist der Auffassung, die angegriffenen Ausführungsformen machten von sämtlichen Merkmalen des Klagepatentanspruchs 1 Gebrauch. Insbesondere handele es sich bei einem Vlies um ein Gewebe mit Fäden, welches Poren aufweise. Unter den Begriff der klagepatentgemäßen Fäden fielen auch sogenannte Filamente, also einzelne Fasern sehr großer, praktisch endloser Länge. Ferner verfüge ein Vliesstoff über „verwinkelte“ Poren, welche dem Porenbegriff des Klagepatents unterfielen. Bei den durch die Vernadelung in dem Zementgemisch befindlichen Faserbündeln handele es sich um klagepatentgemäße Polfäden.
  15. Die Klägerin beantragt,
  16. die Beklagten zu verurteilen,
    1.
    es bei Meidung eines in jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzuset¬zenden Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000,00 – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, wobei die Ordnungshaft an den jeweiligen gesetzlichen Vertretern der Beklagten zu 1) und 3) zu vollziehen ist,
    in der Bundesrepublik Deutschland flexibles Gewebe, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen, welches jeweils die folgenden Merkmale aufweist:
    Gewebe, das abgebunden werden kann, um steif oder halbsteifzu werden; das Gewebe weist eine erste Fläche mit einem Faden und Poren auf; eine zweite Fläche, die ebenfalls einen Faden und Poren aufweist, wobei die zweite Fläche von der ersten Fläche durch einen Zwischenraum getrennt ist;
    selbsttragende Polfaden, die sich zwischen der ersten und der zweiten Flä¬che erstrecken und die die erste und die zweite Fläche in einer beabstanddeten Anordnung halten; und ein Pulvermaterial, das einen Zement um¬fasst und das sich in dem Zwischenraum zwischen der ersten und der zweiten Fläche befindet,
    wobei das Pulvermaterial bei der Zugabe einer Flüssigkeit zu einem steifen oder halbsteifen Feststoff abbinden kann,
    wobei die Poren der ersten Fläche zumindest zum Teil durch ein aufge-brachtes Dichtmittel versiegelt werden, so dass die Größe jeglicher zum Teil versiegelter Poren der ersten Fläche ausreichend klein ist, um das Pul-vermaterial in dem Zwischenraum zurückzuhalten,
    wobei die zweite Fläche Poren beinhaltet, die ausreichend klein sind, um das Pulvermaterial in dem Zwischenraum zurückzuhalten, jedoch den Durchfluss von Flüssigkeit zu ermöglichen, v\wodurch bewirkt wird, dass das Pulvermaterial abbindet;
    (Anspruch 1 der EP 2 027 XXX B1)
    insbesondere wenn
    die erste Fläche auf der Rückseite mit einer feuchtigkeitsbeständigen Schicht versehen ist, die für Flüssigkeiten oder Gase undurchlässig ist
    (Anspruch 7 der EP 2 027 XXX Bl);
    2.
    der Klägerin Auskunft zu erteilen und durch Vorlage eines geordneten Verzeich¬nisses darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie seit dem 28. Januar 2017 die unter Ziffer 1.1 bezeichneten Handlungen begangen hat, und zwar unter Angabe
    a)
    der Menge der erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse, der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer sowie der bezahlten Preise,
  17. b)
    der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -Zeiten und
    -preisen sowie der Typenbezeichnungen und der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer,
  18. c)
    der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zelten und
    -preisen, sowie der Typenbezeichnungen und der Namen und An¬schriften der Angebotsempfänger,
  19. d)
    der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auf-lagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
  20. e)
    sowie der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Geste-hungskosten und des jeweils erzielten Gewinns,
  21. wobei den Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der gewerb¬lichen Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von dieser bezeichneten, dieser gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, vereidigten und in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten die durch dessen Einschaltung entstehenden Kosten übernehmen und ihn ermächtigen, der Klägerin auf Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Ange¬botsempfänger in der Rechnungslegung enthalten ist, und
    wobei die Beklagten zum Nachweis der Angaben zu a) und b) die entsprechen¬den Einkaufs- und Verkaufsbelege (Rechnungen) in Kopie vorzulegen haben, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der rechnungslegungspflich¬tigen Daten geschwärzt werden dürfen;
    3.
    die vorstehend in Ziffer 1.1 bezeichneten, im Besitz gewerblicher Abnehmer be¬findlichen und nach dem 28. Januar 2017 in der Bundesrepublik Deutschland an¬gebotenen und/oder an Dritte in den Verkehr gebrachten und/oder gebrauchten und/oder zu diesen Zwecken besessenen Erzeugnisse zurückzurufen, indem die¬jenigen gewerblichen Abnehmer, die sich im Besitz dieser Erzeugnisse befinden, darüber schriftlich informiert werden, dass die Kammer mit dem hiesigen Urteil auf eine Verletzung des deutschen Teils des europäischen Patents EP 2 027 XXX 81 erkannt hat, ihnen ein Angebot zur Rücknahme dieser Erzeugnisse durch die Beklagte unterbreitet wird und den gewerblichen Abnehmern für den Fall der Rückgabe der Erzeugnisse eine Erstattung des gegebenenfalls bereits gezahlten Kaufpreises bzw. eines sonstigen Äquivalents für die zurückgerufenen Erzeugnisse, oder der Austausch der Erzeugnisse sowie die Übernahme der Verpackungs- und Transport- bzw. Versendungskosten für die Rückgabe zuge¬sagt wird, und die zurückgerufenen und an sie zurückgegebenen Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen;
    4.
    die Beklagten zu 3) zu verurteilen, die in der Bundesrepublik Deutschland in ih¬rem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder Eigentum befindlichen, zu vor¬stehend in Ziffern 1.1 bezeichneten Erzeugnisse zu vernichten oder nach ihrer Wahl an einen von ihnen zu benennenden Treuhänder zum Zwecke der Vernich¬tung auf ihre Kosten herauszugeben;
    5.
    festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die unter 1.1 bezeichneten, in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 28. Januar 2017 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
  22. Die Beklagten beantragen,
  23. die Klage abzuweisen.
  24. Sie tragen vor, dass nicht die erste Fläche, sondern die Unterseite der zweiten Fläche des Vlieses mit Heißluft behandelt werde. Denn durch die Vernadelung von der oberen Seite würden Fasern oder Faserbündel aus der Unterseite der zweiten Fläche herausragen. Diese Faserenden würden mit Heißluft behandelt und verschmelzen. Die Schmelzpunkte hätten eine gewisse Rauigkeit der Oberfläche der unteren Vliesschicht zur Folge.
  25. Die Beklagten sind der Auffassung, die angegriffenen Ausführungsformen verwirklichten nicht sämtliche Merkmale des Klagepatentanspruchs 1. Vielmehr seien sie nach einem Verfahren hergestellt, welches der Lehre des europäischen Patents EP 0 071 209 (Anlage KAP3), bei welchem es sich um im Klagepatent gewürdigten Stand der Technik handelt, entspreche. Insbesondere seien die durch die Vernadelung entstandenen Faserbündel nicht selbsttragend im Sinne des Klagepatents.
  26. Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wir ergänzend Bezug genommen auf die wechselseitig zur Akte gereichten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Hauptverhandlung vom 20.08.2019 (Bl. 144 f. GA).
  27. E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
  28. Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angegriffenen Ausführungsformen sind keine klagepatentgemäßen Erzeugnisse nach § 9 S. 2 Nr. 1 PatG. Der Klägerin stehen gegen die Beklagten die geltend gemachten Ansprüche aus Art. 64 EPÜ i.V.m. §§ 139 Abs. 1, Abs. 2, 140a Abs. 3, 140b PatG, §§ 242, 259 BGB nicht zu.
  29. I.
    Die angegriffenen Ausführungsformen sind keine klagepatentgemäßen Erzeugnisse nach § 9 S. 2 Nr. 1 PatG.
  30. 1.
    Das Klagepatent betrifft einen Stoff, welcher mit einem Material imprägniert ist, das bei Mi¬schen mit einer Flüssigkeit abbindet.
  31. Das Klagepatent nennt als Stand der Technik zunächst die Druckschrift WO 2005/124063. Diese beschreibt einen Schutzraum, der eine Unterlegplane und eine Abdeckung umfasst. Der Raum zwischen der Unterlegplane und der Abdeckung kann durch Pumpen von Luft in den Raum aufgeblasen werden, um die Abdeckung anzuheben und den Schutz¬raum auszubilden. Die Abdeckung besteht aus einem mit Zement imprägniertem Stoff; der Stoff kann eine als „Watte“ bezeichnete Art Filz sein, der ein lockerer Vliesstoff ist. Unmittelbar bevor der Innenraum aufgebla¬sen wird, wird die Abdeckung mit Wasser befeuchtet, so dass nach dem Aufblasen der Zement in der Abdeckung abbindet und eine steife Hülle ausbildet, die als selbst¬tragendes Dach des Schutzraums fungiert, was beson¬ders bei der Bereitstellung von Notunterkünften in Kri¬sengebieten nützlich ist.
  32. Nach dem Klagepatent sind Abstandsgewirke ein bekanntes Material. Sie umfassen eine obere Oberflächenschicht, eine untere Oberflächenschicht und Polfäden, welche sich zwischen den beiden Flächen erstrecken. Dieses Gewirke findet Verwen¬dung bei der Herstellung von Kleidungsstücken und an¬deren Artikeln, wenn ein dicker aber leichter Stoff erfor¬derlich ist und/oder wenn der Stoff einen Luftspalt um¬fassen soll. Die Polfäden sind selbsttragend, um die beiden Flächen in einem gewünschten Abstand zueinander zu halten und um Druckkräften zu widerstehen, d.h. Kräften, die senk¬recht auf die Oberfläche der Schichten wirken. Die Dicke des Abstandsgewirkes wird während der Herstellung durch Auswahl einer entsprechenden Länge der Polfä¬den festgelegt. Die zur Bildung der beiden Flächen ver¬wendeten Fäden können die gleichen oder voneinander bzw. von den Polfäden unterschiedliche sein, so dass es mög¬lich ist, die Eigenschaften der beiden Oberflächenschich¬ten und der Polfäden so zu wählen, dass die gewünsch-ten Eigenschaften bereitgestellt werden.
  33. Als weiteren Stand der Technik nennt das Klagepatent die Druckschrift JP-A-04327272. Diese offenbart eine gewebte oder gestrickte gitterartige Faserschicht, auf welche eine Zu¬sammensetzung aufgebracht wird, welche alle Bestand¬teile eines wärmehärtbaren Harzes und einen großen Anteil Weichmacher enthält. Die Harzzusammensetzung wird ausgehärtet, um eine Lage mit hoher Flexibilität, hoher Festigkeit, geringer Dehnung und guter Formstabi¬lität zu erhalten. Aufgrund des hohen Weichmacheran¬teils im Harz ist das Harz biegsam und erlaubt so das Aufrollen der Lage.
  34. Die US 5461885 wiederum beschreibt ein aushärtbares Sub¬strat, das verwendet wird, um Gipsverbände und Schie¬nen zur Immobilisierung von gebrochenen oder überlas¬teten Gliedmaßen und Gelenken von Patienten auszu¬formen. Das Substrat wird aus einem Stoff gebildet, der aus zwei beabstandeten Geweben besteht; eine aushärtbare flüssi¬ge Zusammensetzung wird durch Kapillarwirkung zwi¬schen die beiden Gewebe eingezogen und dann abbinden gelassen. Die flüssige Zusammensetzung kann ein Harz oder eine flüssige Gipsdispersion sein. Die aushärtbare Flüssigkeit bindet in situ, kurz nachdem sie dem Stoff hin¬zugefügt wurde, ab.
  35. Schließlich offenbart die EP 0071209 ein Verfahren zur Herstellung eines faserverstärkten, verfestigbaren Bindemittels und offenbart ein flexibles Gewebe, das abbinden gelassen werden kann, um steif oder halbsteif zu werden, wobei der das Gewebe umfasst: eine erste Fläche mit Poren; eine zweite Fläche ebenfalls mit Poren, wobei die zweite Fläche von der ersten Fläche beabstandet ist; sich zwischen der ersten Fläche der zweiten Fläche erstreckende Fasern und ein Pulvermaterial, das Zement umfasst und welches sich in dem Zwischenraum zwischen der ersten und der zweiten Fläche befindet, wobei das Pulvermaterial bei der Zugabe einer Flüssigkeit zu einem steifen oder halbsteifen Feststoff abbinden kann, wobei die Größe der Poren der Flächen ausreichend klein ist, um das Pulvermaterial in dem Zwi¬schenraum zurückzuhalten, jedoch den Durchfluss von Flüssigkeit ermöglicht, so dass das Pulvermaterial abbindet.
  36. Das Klagepatent zeigt weder ausdrücklich Nachteile in dem genannten Stand der Technik auf, noch stellt es sich ausdrücklich eine Aufgabe. Allerdings beschreibt es das Klagepatent in Abschnitt [0026] als Vorteil der klagepatentgemäßen Erfindung, dass das Gewebe leicht zu transportieren ist, da es trotz des festen Pulvers eine Biegsamkeit aufweist und zusammengerollt werden kann. Ferner habe die klagepatentgemäße Erfindung laut Abschnitt [00327] einen breiteren Anwendungsbereich als das in der WO 2005/124063 offenbarte Material. Schließlich sieht das Klagepatent einen erheblichen Vorteil des erfindungsgemäßen Gewebes darin, dass die Polfäden und die Fasern der ersten und zweiten Fläche das Material verstärken, wenn es abgebunden ist und damit die Festigkeit des abgebundenen Materials erhöhen (Abschnitte [0029] und [0030]).
  37. Ausgehend von diesen Vorteilen liegt die subjektive Aufgabe des Klagepatents darin, ein dreischichtiges Gewebe wie aus dem Stand der Technik beschrieben derart weiterzuentwickeln, dass die Struktur der Schichten die Festigkeit des eingebrachten Materials erhöht und dass der Anwendungsbereich erweitert wird, während die Biegsamkeit und damit die leichte Transportierbarkeit erhalten bleiben.
  38. Zur Lösung schlägt das Klagepatent ein Gewebe gemäß Anspruch 1 vor, der sich in folgende Merkmale gliedern lässt:
  39. 1. Flexibles Gewebe, das abbinden gelassen werden kann, um steif oder halbsteif zu werden.
    2. Das Gewebe umfasst Folgendes:
    a) eine erste Fläche,
    b) eine zweite Fläche,
    c) selbsttragende Polfäden,
    d) ein Pulvermaterial.
    3. Die erste Fläche (12) weist
    a) einen Faden und
    b) Poren (20) auf, wobei
    c) die Poren der ersten Fläche zumindest zum Teil durch ein aufgebrachtes Dichtmittel versiegelt werden, so dass die Größe jeglicher zum Teil versiegelter Poren der ersten Fläche ausreichend klein ist, um das Pulvermaterial in dem Zwischenraum zurückzuhalten.
    4. Die Fläche (10) weist ebenfalls
    a) einen Faden
    b) und Poren auf, wobei
    c) die zweite Fläche von der ersten Fläche durch einen Zwischenraum (16) getrennt ist, und wobei
    d) die zweite Fläche Poren beinhaltet, die ausreichend klein sind, um das Pulvermaterial in dem Zwischenraum zurückzuhalten, jedoch den Durchfluss von Flüssigkeit zu ermöglichen, wodurch bewirkt wird, dass das Pulvermaterial abbindet.
    5. Die selbsttragenden Polfäden (14),
    a) erstrecken sich zwischen der ersten und der zweiten Fläche und
    b) halten die erste und die zweite Fläche in einer beabstandeten Anordnung.
    6. Das Pulvermaterial
    a) umfasst einen Zement und
    b) befindet sich in dem Zwischenraum zwischen der ersten und der zweiten Fläche,
    c) wobei das Pulvermaterial bei der Zugabe einer Flüssigkeit zu einem steifen oder halbsteifen Feststoff abbinden kann.
  40. 2.
    Die angegriffenen Ausführungsformen sind keine patentgemäßen Erzeugnisse im Sinne von § 9 S. 2 Nr. 1 PatG. Sie verwirklichen nicht sämtliche Merkmale des Klagepatentanspruchs 1. Es fehlt jedenfalls an klagepatentgemäßen Fäden und an klagepatentgemäßen selbsttragenden Polfäden. Entsprechend verletzen die Beklagten das Klagepatent nicht durch Anbieten und Inverkehrbringen der angegriffenen Ausführungsformen.
  41. a)
    Bei dem in den angegriffenen Ausführungsformen verwendetem Vlies handelt es sich allerdings um ein Gewebe im Sinne des Klagepatents.
  42. Was unter einem Gewebe in diesem Sinne zu verstehen ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Nach Art. 69 Abs. 1 EPÜ wird der Schutzbereich des Patents durch seine Ansprüche bestimmt. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind allerdings zur Auslegung heranzuziehen. Patentschriften bilden im Hinblick auf die dort verwendeten Begriffe ihr eigenes Lexikon. Weichen diese vom allgemeinen Sprachgebrauch ab, kommt es letztlich nur auf den sich aus der Patentschrift ergebenden Begriffsinhalt an (BGH, GRUR 1999, 909 – Spannschraube). Dabei ist die Patentschrift in einem sinnvollen Zusammenhang zu lesen und der Patentanspruch im Zweifel so zu verstehen, dass sich keine Widersprüche zu den Ausführungen in der Beschreibung und den bildlichen Darstellungen in den Zeichnungen ergeben, sondern sie als aufeinander bezogene Teile der dem Fachmann mit dem Patent zur Verfügung gestellten technischen Lehre als eines sinnvollen Ganzen verstanden werden (BGH, GRUR 2009, 653 – Straßenbaumaschine; OLG Düsseldorf, Mitt 1998, 179 – Mehrpoliger Steckverbinder). Allerdings erlaubt ein Ausführungsbeispiel regelmäßig keine einschränkende Auslegung eines die Erfindung allgemein kennzeichnenden Patentanspruchs (BGH, GRUR 2004, 1023 – bodenseitige Vereinzelungseinrichtung).
  43. Unter Heranziehung dieser Grundsätze ist der Begriff des Gewebes weit zu fassen und umfasst jedwede Art von Struktur aus Fasern, die flexibel ist und sich im Zusammenspiel mit der Pulverschicht abbinden lässt, um steif oder halbsteif zu werden.
  44. Dies folgt zunächst aus dem Anspruchswortlaut. Der deutsche Begriff „Gewebe“ mag zwar auf etwas „Gewebtes“ bzw. „Verwobenes“ hindeuten. Maßgeblich ist hier allerdings der englische Wortlaut „fabric“. Dieser wird in der Klagepatentschrift unter anderem zur Bezeichnung des nicht gewebten Filzstoffs aus der Druckschrift WO 2005/124063 verwendet. In Abschnitt [0021] heißt es hierzu:
  45. The fabric may be a type of felt known as „wadding“, which is a loose non-woven fabric.
  46. In deutscher Übersetzung:
    Der Stoff kann ein Typ Filz sein, bekannt als „Wattierung“, der ein lose ungewebter Stoff (Vliesstoff) ist.
  47. Der Begriff „fabric“ wird im Klagepatent also als Oberbegriff für diverse Stoffarten verwendet und erfährt seine nähere Eingrenzung erst durch die weiteren Merkmale des Klagepatentanspruchs. Der in den angegriffenen Ausführungsformen verwendete Vliesstoff unterfällt mithin dem Begriff „Gewebe“.
  48. b)
    Allerdings weisen die erste und die zweite Fläche der angegriffenen Ausführungsformen, also die Vliesstoffe, keinen Faden im Sinne von Merkmal 3a) bzw. 4a) auf.
  49. Unter Heranziehung der oben dargestellten Auslegungsgrundsätze handelt es sich bei einem Faden im Sinne des Klagepatents um eine Struktur, die aus mindestens zwei Fasern besteht, die bewusst miteinander verdreht, verwoben oder verschlungen sind.
  50. Der maßgebliche englische Anspruchswortlaut verwendet den Begriff „a yarn“, also Faden bzw. Garn, und nicht den Begriff „fibre“, also Faser. Das Klagepatent unterscheidet ausdrücklich zwischen „yarn“ und „fibre“ und definiert den „yarn“ als aus „fibres“ hergestellt. Dies wird deutlich in Abschnitt [0018] a.E., wo es heißt:
  51. The method of heating fibres to cause shrinkage described above may also have an advantage in compacting the settable material especially if such heat shrinkable fibres are also used to form the second face and/or the pile yarns.
  52. In deutscher Übersetzung lautet der Abschnitt:
  53. Das oben beschriebene Verfah¬ren zur Erhitzung der Fasern zum Zweck der Schrumpfung kann auch einen Vorteil bei der Verdichtung des abbindba¬ren Materials haben, insbesondere wenn diese wärme¬schrumpfenden Fasern ebenfalls zur Ausbildung der zwei¬ten Fläche und/oder der Polfäden verwendet werden.
  54. Damit sind Fäden und Fasern nach dem Klagepatent nicht dasselbe. Vielmehr werden Fäden aus Fasern (im Plural) hergestellt. Angesichts dessen, dass dem Klagepatent die Bedeutungen der Begriffe „Faser“ und „Faden“ bekannt sind und der Anspruchswortlaut von „Faden“ spricht, handelt es sich insoweit um eine bewusste Auswahlentscheidung, die die bloße lose Ansammlung von Fasern aus dem Schutzbereich ausnimmt. Dieses Ergebnis wird gestützt durch die Ausführungen in Abschnitt [0002] des Klagepatents, in welchem dieses einen Vliesstoff aus einer bloßen Ansammlung von Fasern beschreibt und hierzu die Begriffe „a type of felt“ und „loose non-woven fabric“ verwendet, aber gerade nicht den Begriff „yarn“.
  55. Entgegen der Auffassung der Klägerin führen die von ihr mit Schriftsatz vom 12.08.2019 vorgelegten Dokumente zum allgemeinen Fachverständnis des Begriffs „yarn“ zu keinem anderen Ergebnis. Selbst unter der Annahme, dass aus diesen Dokumenten folgt, dass es sich bei einem Gebilde aus einer einzigen langen Faser, einem sogenannten Filament, um einen Faden handelt, entspricht dieses Verständnis angesichts der oben dargestellten klaren Systematik der Klagepatentschrift nicht dem Verständnis der technischen Lehre des Klagepatents. Die Klagepatentschrift stellt insoweit ihr eigenes Lexikon dar (BGH, GRUR 1999, 909 – Spannschraube).
  56. Ebenfalls unerheblich ist der Vortrag der Klägerin dahingehend, dass Abschnitt [0021] der Klagepatentschrift explizit wesentliche Materialien zur Herstellung von Chemiefasern nenne, wie z.B. Polypropylen. Denn allein die tatsächliche Möglichkeit, aus diesem Material ein Filament herzustellen, lässt nicht den Schluss darauf zu, dass das Klagepatent ein solches Filament ebenfalls unter den Begriff des Fadens fasst.
  57. Ausgehend von diesen Grundsätzen fehlt es bei den angegriffenen Ausführungsformen an einem klagepatentgemäßen Faden. Vielmehr werden die zwei äußeren Gewebeschichten, insoweit unstreitig, aus einem Vliesstoff mit einer wirren Ansammlung einzelner Fasern gebildet.
  58. c)
    Es kann offen bleiben, ob die weiteren Merkmale der Merkmalsgruppen 3 und 4 verwirklicht sind, da es der angegriffenen Ausführungsform jedenfalls an selbsttragenden Polfäden im Sinne der Merkmalsgruppe 5 fehlt.
  59. Was unter dem Begriff „selbsttragend“ zu verstehen ist, erläutert das Klagepatent zum einen in der Beschreibung des Stands der Technik in Abschnitt [0003] und im allgemeinen Teil der Beschreibung in Abschnitt [0022]. Hier heißt es:
  60. [0003]
    Die Polfäden sind selbsttragend, um die beiden Flächen in einem gewünschten Abstand zueinander zu halten und um Druckkräften zu widerstehen, d.h. Kräfte, die senk¬recht auf die Oberfläche der Schichten wirken.
  61. [0022]
    Die Länge der Polfäden bestimmt den Abstand zwischen der ersten und der zweiten Fläche und diese müssen, wie oben erläutert, selbsttragend sein. Sie soll¬ten ausreichend steif sein, d.h. sie sollten gegenüber Kräften, die das Gewebe zerdrücken könnten, biegefest sein, um den Abstand zwischen den Flächen beizubehaiten, wenn das abbindbare Material auf die erste Fläche geladen wurde, um das Material in das Gewebe einzu¬bringen. Die Dichte der Polfäden, d.h. die Anzahl von Fäden pro Flächeneinheit, ist ebenfalls ein wichtiger Faktor für die Resistenz gegenüber Druckkräften wäh¬rend der Zuführung der Materialpartikel und zur Beibehal¬tung des Abstands zwischen den Flächen und bei der Begrenzung der Bewegung der Materialpartikel, sobald diese zwischen der oberen und der unteren Schicht ein¬geschlossen sind.
  62. Durch die Bezugnahme in der allgemeinen Beschreibung in Abschnitt [0022] auf die Erläuterungen zum Stand der Technik stellt das Klagepatent klar, dass der Begriff „selbsttragend“ wie im Stand der Technik beschrieben zu verstehen ist. Selbsttragend bedeutet mithin, dass die Polfäden derart biegefest sind, dass sie nicht nur in der Lage sind, ihr eigenes Gewicht und das der oberen Gewebefläche zu tragen, sondern dass sie auch gewissen Druckkräften, die von außen auf das Gewebe wirken, gewachsen sind.
  63. Bei den durch die Vernadelung in das Zementgemisch gezogenen Faserbündeln der angegriffenen Ausführungsformen handelt es nicht um klagepatentgemäße Polfäden. Insoweit fehlt es bereits an schlüssigem Vortrag der Klägerin dahingehend, dass diese in der Lage sind, Druckkräften zu widerstehen, die über das Gewicht der oberen Vliesschicht hinausgehen. Die Klägerin trägt zwar vor, dass die Faserbündel in der Lage seien, Druckkräften zu widerstehen, weil sie nach Entfernung des Pulvers nicht zusammenfielen. Schlüssiger Vortrag zum Widerstand gegenüber über das Gewicht der oberen Schicht hinausgehenden Druckkräften fehlt hingegen. Insoweit war dem Beweisantritt der Klägerin auf Seite 13 ihres Schriftsatzes vom 12.08.2019 nicht nachzugehen.
  64. 3.
    Unteranspruch 7 ist aus den oben genannten Gründen ebenfalls nicht verwirklicht.
  65. II.
    Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 S. 2 ZPO.
  66. Streitwert: 1.000.000,00 EUR

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