4a O 41/19 – Kindersitz 2

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3068

Landgericht Düsseldorf

Urteil vom 29. September 2020, Az. 4a O 41/19

  1. I. Die Beklagten werden verurteilt,
  2. 1. es bei Meidung eines vom Gericht für jeden einzelnen Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000,00 – ersatzweise Ordnungshaft -, oder einer Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, im Wiederholungsfall Ordnungshaft bis zu insgesamt 2 Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihren jeweiligen gesetzlichen Vertretern zu vollziehen ist, zu unterlassen
  3. Kindersitze zur Anbringung auf einem Kraftfahrzeugsitz mit einem Sitzelement,
  4. in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen, zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen, wenn diese umfassen:
  5. – einen Seitenaufprallschutz, umfassend ein Seitenaufprallschutzelement, nämlich ein Klappelement,
  6. – der von einer innerhalb einer vorgegebenen Breite gelegenen Ruhestellung in eine außerhalb der vorgegebenen Breite gelegene Funktionsstellung und umgekehrt bringbar ist,
  7. – wobei der Kindersitz eine Stellungsüberführungseinrichtung aufweist, die derart ausgebildet ist, dass die Stellungsüberführungseinrichtung selbsttätig den Seitenaufprallschutz von seiner Ruhestellung in seine Funktionsstellung überführt,
  8. – wobei die Stellungsüberführungseinrichtung mindestens eine Feder umfasst,
  9. – wobei die Überführung von Funktionsstellung in Ruhestellung nicht selbsttätig, sondern per Hand durchgeführt wird,
  10. – wobei das Klappelement in der Ruhestellung in eine Außenwand des Sitzelementes eingebettet ist,
  11. – wobei das Klappelement auch in der Funktionsstellung teilweise in der Außenwand des Sitzelementes eingebettet ist, so dass nur ein Abschnitt des Klappelementes über die Außenwand vorragt,
  12. – wobei das Klappelement in der Funktionsstellung um mindestens 50% jedoch höchstens 80% seiner Länge über die Außenwand des Sitzelementes vorragt;
    (Schutzanspruch 1 von DE 20 2016 008 XXX U1)
  13. 2. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie die in Ziff. I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 18. April 2019 begangen haben, und zwar unter Angabe
  14. a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderen Vorbesitzer,
  15. b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
  16. c) der Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
  17. wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
  18. 3. der Klägerin gegliedert nach Kalendervierteljahren schriftlich in geordneter Form Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie die in Ziffer I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 29.06.2019 begangen haben, und zwar unter Angabe
  19. a) der einzelnen Lieferungen aufgeschlüsselt nach
  20. aa) Liefermengen, -zeiten und -preisen,
  21. bb) allen Identifikationsmerkmalen der jeweiligen Erzeugnisse wie Typenbezeichnung, Artikelbezeichnung, laufender Produktnummer, sowie
  22. cc) den Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer,
  23. b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach
  24. aa) Angebotsmengen, -zeiten und -preisen,
  25. bb) allen Identifikationsmerkmalen der jeweiligen Erzeugnisse wie Typenbezeichnung, Artikelbezeichnung, laufender Produktnummer, sowie
  26. cc) den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
  27. c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet;
  28. d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten sowie des erzielten Gewinns
  29. wobei den Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von dieser zu bezeichnenden und ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten dessen Kosten tragen und ihn ermächtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkretes Befragen mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
  30. 4. die unter Ziffer I.1. bezeichneten, seit dem 18.04.2019 in Verkehr gebrachten, im Besitz Dritter befindlichen Erzeugnisse aus den Vertriebswegen
  31. a) zurückzurufen, indem diejenigen Dritten, denen durch die Beklagten oder mit Zustimmung der Beklagten Besitz an den Erzeugnissen eingeräumt wurde, unter Hinweis auf den durch Urteil des Landgerichts Düsseldorf festgestellten gebrauchsmusterverletzenden Zustand der Erzeugnisse aufgefordert werden, die Erzeugnisse an die Beklagten zurückzugeben und den Dritten für den Fall der Rückgabe des Erzeugnisses eine Rückzahlung des ggf. bereits bezahlten Kaufpreises sowie die Übernahme der mit der Rücknahme verbundenen Kosten zugesagt wird, und
  32. b) endgültig zu entfernen, indem die Beklagten diese Erzeugnisse an sich nehmen oder die Vernichtung derselben beim jeweiligen Besitzer veranlassen;
  33. 5. nur die Beklagte zu 1: die sich in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz befindlichen Erzeugnisse gemäß Ziffer I.1. an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf Kosten der Beklagten zu 1) herauszugeben.
  34. II. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der dieser durch seit dem 29.06.2019 begangene Handlungen gemäß Ziffer I.1. entstanden ist und zukünftig noch entsteht.
  35. III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
  36. IV. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen beiden Beklagte als Gesamtschuldner 5 Prozent, die Beklagte zu 1) (alleine) 85 Prozent und die Beklagte zu 2) (alleine) 10 Prozent.
  37. V. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung von EUR 1.000.000,00. Daneben sind die Ansprüche auf Unterlassung, Rückruf und Vernichtung (Ziffern I.1., I.4. und I.5. des Tenors) gemeinsam gesondert vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von EUR 750.000,00. Die Ansprüche auf Auskunft und Rechnungslegung (Ziffern I.2. und I.3. des Tenors) sind gemeinsam gesondert vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von EUR 125.000,00. Die Kostengrundentscheidung ist gesondert vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 115 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrags.
  38. Tatbestand
  39. Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen behaupteter unmittelbarer Gebrauchsmusterverletzung auf Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung, Rückruf gebrauchsmusterverletzender Erzeugnisse sowie auf Feststellung der Pflicht zum Leisten von Schadensersatz dem Grunde nach in Anspruch. Die Beklagte zu 1) nimmt sie zusätzlich auch auf Vernichtung gebrauchsmusterverletzender Erzeugnisse in Anspruch.
  40. Die Klägerin ist die im Register des Deutschen Patent- und Markenamts (vgl. den Registerauszug in Anlage K5) eingetragene Inhaberin des deutschen Gebrauchsmusters DE 20 2016 008 XXX U1 (nachfolgend: Klagegebrauchsmuster; vorgelegt in Anlage K28). Das Klagegebrauchsmuster besitzt den Anmeldetag 09.09.2016 und beansprucht die innere Priorität der DE 20 2015 XXX 719.6 (nachfolgend: DE‘791; vorgelegt in Anlage B20b) vom 09.09.2015. Die Eintragung des Klagegebrauchsmusters erfolgte am 18.04.2019 und wurde am 29.05.2019 im Patentblatt bekannt gemacht.
  41. Das Klagegebrauchsmuster steht in Kraft. Die Beklagte zu 1) hat gegen das Klagegebrauchsmuster am 31.10.2019 einen Löschungsantrag (vgl. Anlagenkonvolut QE1) gestellt, über den die Gebrauchsmusterabteilung des Deutschen Patent- und Markenamts noch nicht entschieden hat. Die Gebrauchsmusterabteilung erließ am 31.08.2020 einen in Anlage K36 vorgelegten Zwischenbescheid.
  42. Der geltend gemachte Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters lautet in der eingetragenen Fassung wie folgt:
  43. „Kindersitz zur Anbringung auf einem Kraftfahrzeugsitz mit einem Sitzelement (10), insbesondere Sitzschale, und einem Seitenaufprallschutz,
  44. umfassend ein Seitenaufprallschutzelement, nämlich ein Klappelement (11), der von einer innerhalb einer vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegenen, Ruhestellung in eine außerhalb der vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegene, Funktionsstellung und umgekehrt bringbar ist,
  45. dadurch gekennzeichnet, dass der Kindersitz eine Stellungsüberführungseinrichtung aufweist, die derart ausgebildet ist, dass die Stellungsüberführungseinrichtung selbsttätig den Seitenaufprallschutz von seiner Ruhestellung oder einer Zwischenstellung zwischen Ruhe- und Funktionsstellung in seine Funktionsstellung überführt, wobei die Stellungsüberführungseinrichtung mindestens eine Feder (31) umfasst, wobei die Überführung von Funktionsstellung in Ruhestellung nicht selbsttätig, sondern per Hand durchgeführt wird, wobei das Klappelement (11) in der Ruhestellung in eine Außenwand (13) des Sitzelementes (10) eingebettet ist, wobei das Klappelement auch in der Funktionsstellung teilweise in der Außenwand des Sitzelementes eingebettet ist, so dass nur ein Abschnitt des Klappelementes über die Außenwand vorragt, wobei das Klappelement in der Funktionsstellung um mindestens 50%, jedoch höchstens 80% seiner Länge über die Außenwand des Sitzelementes vorragt.“
  46. Hinsichtlich der nur in Form von Insbesondere-Anträgen geltend gemachten Unteransprüche 4, 17 bis 19 und 21 bis 27 wird auf die Klagegebrauchsmusterschrift in Anlage K28 verwiesen.
  47. Zur Veranschaulichung der beanspruchten Lehre werden nachfolgend die Figuren 12 und 6 sowie 7 und 10 verkleinert eingeblendet:
  48. Die vorstehenden Figuren 12 und 6 zeigen nach Abs. [0025] der Beschreibung des Klagegebrauchsmusters eine Seitenansicht eines beanspruchten Kindersitzes (Fig. 12) bzw. einen Ausschnitt des Kindersitzes mit ausgeklappten Klappelement (11) in einer schematischen Seitenansicht (Fig. 6).
  49. Demgegenüber zeigen die nachfolgend gezeigten Figuren 7 und 10 einen Schnitt durch einen Abschnitt des Kindersitzes, wobei sich das Klappelement (11) in Fig. 7 in der Ruhestellung und in Fig. 10 in der Funktionsstellung befindet:
  50. Die Beklagte zu 1) mit Sitz in Deutschland und die Beklagte zu 2) mit Sitz XXX handeln mit Baby-Artikeln wie Kindersitzen und Baby-Sitzschalen.
  51. Die Beklagte zu 1) vertreibt in Deutschland Autokindersitze mit den Bezeichnungen „A“, „B“, „AE“, „C“ und „D“ (nachfolgend: jeweils angegriffene Ausführungsform(en) I).
  52. Die Beklagte 2) zeigt die angegriffene Ausführungsformen I auf ihrer deutschsprachigen Internetseite https://XXX/ (vgl. Anlagen K8 und K9). Die Beklagte zu 1) wird auf diesen Internetseiten der Beklagten zu 2) unter dem Menüpunkt „“ als Vertriebsgesellschaft für Deutschland mit Kontaktdaten aufgeführt (vgl. Anlage K10).
  53. Auf der Internetseite der Beklagten zu 1) verweist ein Link auf (…), auf der Kindersitze mit der Bezeichnung „E“ (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform II) beworben werden (vgl. Internetauszüge in den Anlagen K24/K25). Hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsform II macht die Klägerin gegen die Beklagte zu 2) keine Ansprüche geltend.
  54. Die Klägerin meint, die Beklagten verletzten das Klagegebrauchsmuster.
  55. Sie behauptet, die Beklagten vertrieben die angegriffene Ausführungsform I in Deutschland im gemeinsamen Zusammenwirken. Auch die Beklagte zu 2) vertreibe die angegriffene Ausführungsformen I in Deutschland, da sie für den Inhalt der Internetseite https://X verantwortlich ist, auf der die an deutsche Verbraucher gerichteten Angebote der G-Kindersitze zum Abruf bereit ständen. Ferner sind (unstreitig) die angegriffenen Ausführungsformen I mit einem Aufkleber versehen, der die Beklagte zu 2) als deren Inverkehrbringerin ausweist.
  56. Soweit sich der Seitenaufprallschutz anspruchsgemäß in der Ruhestellung innerhalb einer vorgegeben Breite des Kindersitzes befinden soll, verstehe der Fachmann dies funktional dahingehend, dass der Seitenaufprallschutz in der Ruhestellung nicht über die seitliche Breite des Sitzes hinausragen dürfe.
  57. Der Fachmann verstehe „selbsttätig“ hinsichtlich der Stellungsüberführungseinrichtung in Abgrenzung zu den Worten „nicht selbsttätig, per Hand“ im Anspruch. Die Überführung in die Funktionsstellung müsse ohne händische Betätigung des Seitenaufprallschutzelements erfolgen. Allerdings sei dem Fachmann klar, dass die Stellungsüberführungseinrichtung eine Auslösung benötigt, die aber nicht in einer händischen Betätigung des Seitenaufprallschutzelements liegen könne. Denn die händische Betätigung sehe das Klagegebrauchsmuster in Abs. [0007] als fehleranfällig an. Die Art und Weise der Auslösung überlasse das Klagegebrauchsmuster dagegen dem Fachmann.
  58. Die Klägerin trägt vor, die angegriffene Ausführungsformen I und II verwirklichten die Lehre des Klagegebrauchsmusters unmittelbar wortsinngemäß. Die angegriffene Ausführungsform II sei – soweit für Anspruch 1 relevant – technisch identisch zur angegriffenen Ausführungsform I ausgebildet.
  59. Das Klagegebrauchsmuster sei rechtsbeständig, so dass eine Aussetzung nicht angezeigt sei. Der geltend gemachte Anspruch 1 sei neu und erfinderisch gegenüber dem Stand der Technik. Dies bestätige der Bescheid der Gebrauchsmusterabteilung vom 31.08.2020 (Anlage K36) im Löschungsverfahren.
  60. Der internationale Recherchebericht zur EP 3 347 XXX A1 sei bedeutungslos, da er durch den in Anlage K29 vorgelegten Hinweis des Europäischen Patentamts auf die beabsichtigte Patenterteilung überholt sei. Die für die Erteilung vorgesehene Anspruchsfassung (vgl. Anlage K30) sei sogar weiter als Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters. Gleiches gelte für das erteilte EP 3 564 XXX B1 (vorgelegt in Anlage K38). Diese Entscheidungen zu parallelen Patenten seien zugunsten des Rechtsbestands des Klagegebrauchsmusters zu berücksichtigen.
  61. Die geltend gemachten Ansprüche auf Rückruf und Vernichtung seien verhältnismäßig. Es sei auch nicht erkennbar, wie die Beklagten den Seitenaufprallschutz in eine schutzrechtsfreie Variante umändern könnten.
  62. Die Klägerin beantragt,
  63. – wie zuerkannt –
    Allerdings hinsichtlich der Rechnungslegung zu den Lieferungen (Ziffer I.3.a) mit dem Zusatz:
  64. „unter Vorlage der Rechnungen und Lieferscheine“.
  65. Hinsichtlich der nur in Form von Insbesondere-Anträgen geltend gemachten Unteransprüchen 4, 17 bis 19 und 21 bis 27 wird auf die Klageschrift verwiesen.
  66. Die Beklagten beantragen,
  67. die Klage abzuweisen;
  68. hilfsweise:
    Das Verfahren wird bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem Löschungsverfahren gegen das DE 20 2016 008 XXX U1 ausgesetzt.
  69. Die Beklagte zu 2) sei nicht für den europaweiten Vertrieb der Produkte der Marke G zuständig, sondern nur für H. Beide Gesellschaften unterhielten keine Geschäftsbeziehungen.
  70. Das Klagegebrauchsmuster lege nicht fest, aus welchem Blickwinkel die Hüllkurve zu zeichnen sei. Es sei nicht ausgeschlossen, dass eine Erweiterung nach vorne ausreicht, um eine gedanklich um den Sitz gezogene Hüllkurve zu verbreitern.
  71. Der Fachmann verstehe den Anspruch dahingehend, dass die „selbsttätige Stellungsüberführungseinrichtung“ lediglich die technische Anordnung umfasst, mittels derer das Seitenaufprallschutzelement aus der Ruhe- oder Zwischenstellung in die Funktionsstellung überführt wird. Dies werde vom Anspruch weitergehend konkretisiert, dass diese technische Anordnung mittels einer Feder zu erfolgen hat.
  72. Nach der zutreffenden, engen Auslegung fielen nur solche Ausführungsformen in den Schutzbereich, die eine Überführung des Seitenaufprallelements in Funktionsstellung automatisch, d.h. ohne jegliche Nutzerbetätigung vorsehen, vergleichbar mit einem Airbag, der beim Aufprall selbst auslöst, d.h. „selbsttätig“ sei.
  73. Bei einer breiteren Auslegung würden auch solche Auslösemittel vom Anspruch erfasst werden, die eine Auslösung unmittelbar an dem Seitenaufprallelement vorsehen, etwa wenn das Seitenaufprallelement händisch in eine Zwischenstellung gebracht wird und sodann selbsttätig, mittels einer Feder aus dieser Zwischenstellung in die Funktionsstellung gedrückt wird.
  74. Bei funktionalem Verständnis könnte der Fachmann zwar davon ausgehen, dass durch die Einbettung des Klappelements in der Ruhestellung Platz gespart werden soll, so dass eine Einbettung vorliegt, wenn sich das Klappelement innerhalb der vorgegebenen Breite des Sitzes liegt. Nach wortsinngemäßen Verständnis stelle dagegen ein „Einbetten“ ein vollständig bündiges Abschließen der Oberfläche des Seitenaufprallschutzelements mit der Außenwand des Sitzelements dar – also ein „optisches Verschwinden“ des Seitenelements in der Kontur des Sitzes. Dies belege Abs. [0014] der Klagegebrauchsmusterbeschreibung, der das anspruchsgemäße Einbetten von der Alternative eines Überstands abgrenze, wobei der Anspruch nicht auf diese Alternative gerichtet sei.
  75. Dass das Klappelement in der Funktionsstellung um mindestens 50 %, aber höchstens 80% seiner Länge über die Außenwand des Sitzelements vorragen soll, sei eine willkürliche Vorgabe des Klagegebrauchsmusters. Diesem lasse sich keine spezifische Funktion dieses Merkmals entnehmen. Der Fachmann messe diesem Merkmal keinen erfinderischen Wert zu und lese die angegebenen Proportionen im Rahmen der Prüfung der Neuheit bzw. des erfinderischen Schritts mit.
  76. Die Beklagten meinen, die angegriffenen Ausführungsformen (I und II) verletzten das Klagegebrauchsmuster nicht.
  77. Bei der angegriffenen Ausführungsform II fehle es an einer Verletzung von Anspruch 1 schon deshalb, weil das Klappelement in Ruhestellung über die Breite/Hüllkurve des Kindersitzes hinausrage.
  78. Es fehle bei den angegriffenen Ausführungsformen (I und II) eine Stellungsüberführungsvorrichtung, die das Seitenelement komplett selbsttätig von der Ruhestellung in seine Funktionsstellung überführt, da es einer manuellen Auslösung durch den Benutzer für die Überführung bedürfe. Dass Ziehen am Anschnallgurt (Gurtschloss) stelle keine rein selbsttätige Überführung dar.
  79. Das Klappelement sei bei der angegriffenen Ausführungsform I gerade nicht in die Außenwand des Sitzelements im Sinne des Klagegebrauchsmusters „eingebettet“. Es fehle an einem vollständigen Ineinanderübergehen der Konturen der Außenseite des Klappelements und des Sitzelements.
  80. Auch bei der angegriffenen Ausführungsform II fehle es an der Verwirklichung dieses Merkmals, da das Klappelement deutlich von der Außenwand abgehoben angebracht ist, d.h. hervorsteht, und ein Eingriff für die rein manuelle Überführung des Klappelements aus der Ruhe- in die Funktionsstellung vorgesehen ist. Das Seitenelement sei bei der angegriffenen Ausführungsform II ohnehin nicht in die Außenwand eines Sitzelements eingebettet. Denn dieses befindet sich – insoweit unstreitig – in einem weiteren, unbeweglichen Seitenaufprallschutz aus dem Schaumstoff EPP.
  81. Die Lehre des Klagegebrauchsmusters sei weder neu noch beruhe sie auf einem erfinderischen Schritt, so dass das Klagegebrauchsmuster höchstwahrscheinlich das Löschungsverfahren nicht überstehen werde.
  82. Das Klagegebrauchsmuster werde jeweils neuheitsschädlich von den Entgegenhaltungen EP 0 958 XXX A2 (nachfolgend: EP‘XXX), WO 201X/XXX (nachfolgend: WO‘XYZ) und EP 2 275 YYY getroffen. Außerdem lägen neuheitsschädliche offenkundige Vorbenutzungen im Inland durch die Vorbenutzungsgegenstände „J“ und „K“ vor.
  83. Die Lehre des Klagegebrauchsmusters sei zudem jedenfalls nahegelegt von einer Kombination der WO‘XYZ mit der EP‘XXX oder der DE 101 36 XXX C1 oder dem Vorbenutzungsgegenstand K; bzw. ausgehend vom K zusammen mit der WO‘XYZ.
  84. Weiterhin sei das Klagegebrauchsmuster in der geltend gemachten Fassung nicht ausführbar. Schließlich enthalte das Klagegebrauchsmuster insbesondere in den Unteransprüchen viele Merkmale, die in dem Prioritätsdokument des Klagegebrauchsmusters nicht offenbart seien. Daher seien die DE 20 2015 XXX 791 U und die Stammanmeldung WO 2017/XXX A1 neuheitsschädlicher Stand der Technik.
  85. Die Ansprüche auf Vernichtung und Rückruf seien wegen Unverhältnismäßigkeit zurückzuweisen. Als milderes Mittel gegenüber dem vollständigen Rückruf und der vollständigen Vernichtung würde es ausreichen, wenn man entweder die Federn in den Seitenlehnen oder aber das Seilzugsystem entfernt bzw. unbrauchbar macht. Jedenfalls sei der Vernichtungsanspruch zurückzuweisen, sofern mehr als eine Teilvernichtung beantragt wurde. Für die Abänderung sei eine angemessene Schon- bzw. Umsetzungsfrist einzuräumen. Hinsichtlich des Rückrufanspruchs sei den Beklagten vorzubehalten, den Abnehmern anzubieten, eine Abänderung der angegriffenen Ausführungsform innerhalb einer Frist vorzunehmen.
  86. Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die ausgetauschten Schriftsätze samt Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15.09.2020 verwiesen.
  87.  Entscheidungsgründe
  88. Die zulässige Klage ist nahezu vollständig begründet. Bei Zugrundelegung des fachmännischen Verständnisses von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters (hierzu unter I.) ist dessen Schutzfähigkeit feststellbar (hierzu unter II.). Die angegriffenen Ausführungsformen I und II verwirklichen jeweils die Lehre des Klagegebrauchsmusters unmittelbar wortsinngemäß (hierzu unter III.). Aufgrund der feststellbaren Benutzungshandlungen der Beklagten (hierzu unter IV.) stehen der Klägerin gegen diese die geltend gemachten Ansprüche aus §§ 24 Abs. 1, Abs. 2; 24a Abs. 1, Abs. 2; 24b GebrMG, §§ 242, 259 BGB zu, allerdings hat die Klägerin keinen Anspruch auf eine Belegvorlage hinsichtlich des Rechnungslegungsanspruchs (hierzu unter V.). Da das Klagegebrauchsmuster schutzfähig ist, wird das Verfahren im Rahmen des der Kammer nach § 19 GebrMG zustehenden Ermessens nicht in Bezug auf das anhängige Löschungsverfahren ausgesetzt (hierzu unter VI.).
  89. I.
    Das Klagegebrauchsmuster (nachfolgend entstammen Absätze ohne Quellenangabe dem Klagegebrauchsmuster) betrifft einen Kindersitz zur Anbringung auf einem Kraftfahrzeugsitz, wobei das Klagegebrauchsmuster „Kindersitz“ als Oberbegriff für Kindersitze und Babyschale versteht (Abs. [0001] f.).
  90. 1.
    In seiner einleitenden Beschreibung schildert das Klagegebrauchsmuster, dass auf einem Kraftfahrzeugsitz anbringbare Kindersitze seit geraumer Zeit bekannt seien. Derartige Sitze dienten für Kleinkinder, Babys und Kinder und böten diesen, insbesondere im Falle eines Unfalls, erhöhten Schutz. Die Befestigung derartiger Kindersitze könne mit dem Gurtsystem des Autos oder mittels Isofix-Klinken erfolgen. Eine derartige Befestigung sichere den Kindersitz im Falle eines Unfalls auf dem Kraftfahrzeugsitz ab, so dass dieser am Kraftfahrzeugsitz gehalten und nicht nach vorne geschleudert wird.
  91. Jedoch hätten sich aus Sicht des Klagegebrauchsmusters die im Stand der Technik bekannten Sitze bei einem Seitenaufprall als problematisch erwiesen, da sowohl eine Gurtbefestigung als auch eine Befestigung mittels Isofix-Klinken den Kindersitz nur unzureichend gegen eine Seitwärts-Bewegung des Sitzes schützten. Aus diesem Grund sei es bekannt, den Kindersitz mit einem Seitenaufprallschutz auszustatten, wie beispielsweise in der WO 2013/XXX A1 (vorgelegt in Anlage K6) beschrieben. Bei diesem Kindersitz seien eine Sitzschale und ein an dieser aufgebrachter Seitenaufprallschutz vorgesehen, der von einer Ruhestellung in eine Funktionsstellung gebracht werden könne. Dabei sei der Seitenaufprallschutz so positioniert, dass er etwaige Seitenkräfte hinter dem Rücken eines im Kindersitz sitzenden Kindes vorbei überträgt und in die Sitzschale einleitet (Abs. [0003]). Zwar werde durch einen derartigen Seitenaufprallschutz die Sicherheit erhöht. Gleichwohl sieht das Klagegebrauchsmuster die Absicherung gegen die Folgen eines Seitenaufpralls weiter als verbesserungswürdig an (Abs. [0004]).
  92. Vor diesem Hintergrund bezeichnet es das Klagegebrauchsmuster in Abs. [0005] als seine Aufgabe, einen Seitenaufprallschutz aufzuzeigen, der sich durch eine verbesserte Absicherung gegenüber einem Seitenaufprall auszeichnet, insbesondere die Bedienbarkeit und Einstellung einer Funktionsstellung des Seitenaufprallschutzes vereinfacht.
  93. 2.
    Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Klagegebrauchsmuster einen Kindersitz nach Maßgabe von Anspruch 1 vor, der sich in Form einer Merkmalsgliederung wie folgt darstellen lässt:
  94. 1 Kindersitz zur Anbringung auf einem Kraftfahrzeugsitz mit einem Sitzelement (10), insbesondere Sitzschale.
  95. 1.1 Der Kindersitz weist einen Seitenaufprallschutz auf, der ein Seitenaufprallschutzelement, nämlich ein Klappelement (11), umfasst.
  96. 1.2 Der Seitenaufprallschutz ist von einer innerhalb einer vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegenen, Ruhestellung in eine außerhalb der vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegene, Funktionsstellung und umgekehrt bringbar.
  97. 2 Der Kindersitz weist eine Stellungsüberführungseinrichtung auf, die derart ausgebildet ist, dass die Stellungsüberführungseinrichtung selbsttätig den Seitenaufprallschutz von seiner Ruhestellung oder einer Zwischenstellung zwischen Ruhe- und Funktionsstellung in seine Funktionsstellung überführt.
  98. 3 Die Stellungsüberführungseinrichtung umfasst mindestens eine Feder (31).
  99. 4 Die Überführung von Funktionsstellung in Ruhestellung wird nicht selbsttätig, sondern per Hand durchgeführt.
  100. 5 Das Klappelement (11) ist in der Ruhestellung in eine Außenwand (13) des Sitzelementes (10) eingebettet.
  101. 6 Das Klappelement ist auch in der Funktionsstellung teilweise in der Außenwand des Sitzelementes eingebettet, so dass nur ein Abschnitt des Klappelementes über die Außenwand vorragt.
  102. 7 Das Klappelement ragt in der Funktionsstellung um mindestens 50%, jedoch höchstens 80% seiner Länge über die Außenwand des Sitzelementes vor.
  103. 3.
    Nach § 12a GebrMG wird der Schutzbereich eines Gebrauchsmusters durch den Inhalt der Schutzansprüche bestimmt, wobei die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Schutzansprüche heranzuziehen sind. Die Auslegung ist nach den gleichen Grundsätzen vorzunehmen wie bei einem Patent (BGH, GRUR 2007, 1059 – Zerfallszeitmessgerät); so entspricht § 12a GebrMG inhaltlich den für Patente einschlägigen Regelungen in § 14 S. 1 PatG bzw. Art. 69 Abs. 1 S. 1 EPÜ. Das heißt auch bei der Auslegung eines Gebrauchsmusters sind die Worte des betreffenden Schutzanspruchs daraufhin zu würdigen, was ihnen unter Heranziehung von Beschreibung und Zeichnung und des allgemeinen Fachwissens bei sinnvoller Auslegung als offenbart und beansprucht zu entnehmen ist (Scharen, in: Benkard, PatG, 11. Auflage 2015, § 12a GebrMG Rn. 3).
  104. Relevanter Fachmann, aus dessen Sicht das Klagegebrauchsmuster auszulegen ist, ist hier ein Maschinenbauingenieur mit mehreren Jahren Berufserfahrung in der Entwicklung von Autokindersitzen (so auch die Gebrauchsmusterabteilung, vgl. S. 8 f. Anlage K36).
  105. 4.
    Nach Abs. [0007] erhöht der beanspruchte Kindersitz die Sicherheit gegenüber im Stand der Technik bekannten Vorrichtungen, indem dem Benutzer des Kindersitzes die Aufgabe abgenommen wird, den Seitenaufprallschutz in seine Funktionsstellung zu überführen. Dies erfolgt nach Merkmal 2 gebrauchsmustergemäß selbsttätig mittels einer Stellungsüberführungseinrichtung. Dem liegt nach Abs. [0007] die Erkenntnis zu Grunde, dass im Stand der Technik aus dem händischen Verbringen oder Überführen des Klappelements in die Funktionsstellung eine Sicherheitslücke resultiert. Eine solche entsteht beispielsweise, wenn nur eine Zwischenstellung zwischen Ruhe- und Funktionsstellung eingestellt wird.
  106. 5.
    Vor dem Hintergrund des Streits der Parteien bedürfen mehrere Merkmale der näheren Erörterung:
  107. a)
    Merkmal 1.2,
  108. „1.2 Der Seitenaufprallschutz ist von einer innerhalb einer vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegenen, Ruhestellung in eine außerhalb der vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegene, Funktionsstellung und umgekehrt bringbar“,
  109. verlangt, dass der Seitenaufprallschutz so ausgestaltet ist, dass er (reversibel) zwei Stellungen unterschiedlicher Breite einnehmen kann: Eine Ruhestellung, bei der sich der Seitenaufprallschutz innerhalb der vorgegebenen Breite befindet, und eine Funktionsstellung außerhalb dieser Breite.
  110. Die Breite ist das Ausmaß des Sitzes quer zur Fahrt- bzw. Blickrichtung des Kindes. Dies entspricht dem allgemeinen Verständnis von der Breite eines Kindersitzes, der auf einem Kraftfahrzeugsitz angebracht wird (Merkmal 1). Hiervon geht auch das Klagegebrauchsmuster durchgängig aus; so wird bei der Erörterung des Standes der Technik zwischen einem Schleudern des Sitzes nach vorne bei einem Auffahrunfall und einem Seitenaufprall unterschieden (Abs. [0003]). Das Klagegebrauchsmuster strebt eine Verbesserung des Seitenaufprallschutzes an, indem der Seitenaufprallschutz in Form des Klappelements seitlich ausgeklappt wird (vgl. Abs. [0007]).
  111. Das Klagegebrauchsmuster schließt in Merkmal 1.2 nicht aus, dass der Seitenaufprallschutz die Breite des Kindersitzes auch in der Ruhestellung definiert – also der Seitenaufprallschutz in der Ruhestellung das seitlich äußerste Bauteil ist, d.h. hinausragt. Das Verhältnis zwischen Seitenaufprallschutz / Klappelement zur Außenwand des Sitzelements ist Gegenstand von Merkmal 5, wonach das Klappelement in der Ruhestellung in die Außenwand eingebettet ist. Die von Merkmal 1.2 angesprochene Breite bezieht sich auf den Kindersitz, dessen Bestandteil auch der Seitenaufprallschutz ist. Bei der Breite handelt es sich um die tatsächliche Breite – Merkmal 1.2 nennt als Beispiel eine Standardbreite. Bei dieser handelt es sich um ein bestimmtes (absolutes) Längenmaß, welche nach Abs. [0007] gemäß der dort genannten Norm 440 mm beträgt.
  112. Damit wird Merkmal 1.2 – entgegen der von den Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 15.09.2020 vertretenen Auffassung – nicht zu einem „Nullmerkmal“. Vielmehr spezifiziert Merkmal 1.2, dass sich die Breite des Kindersitzes zwischen Ruhe- und Funktionsstellung unterscheiden muss und dass der Seitenaufprallschutz in der Funktionsstellung die Breite des Kindersitzes erhöhen muss.
  113. b)
    Der in Merkmal 2,
  114. „2 Der Kindersitz weist eine Stellungsüberführungseinrichtung auf, die derart ausgebildet ist, dass die Stellungsüberführungseinrichtung selbsttätig den Seitenaufprallschutz von seiner Ruhestellung oder einer Zwischenstellung zwischen Ruhe- und Funktionsstellung in seine Funktionsstellung überführt“,
  115. verwendete Begriff „selbsttätig“ ist dahingehend zu verstehen, dass die Überführung des Seitenaufprallschutzes in die Funktionsstellung ohne händische Einwirkung auf den Seitenaufprallschutz erfolgt. Die Auslösung der Überführung kann dabei manuell ausgelöst werden. Der eigentliche Vorgang der Stellungsüberführung – also das Verbringen des Klappelements außerhalb der vorgegebenen Breite (Merkmale 1.1 und 1.2) – muss dagegen selbsttätig erfolgen, wobei eine Feder zum Einsatz kommen muss (Merkmal 3).
  116. Die Ausgangsposition des Seitenaufprallschutzes für die selbsttätige Überführung kann nach dem Anspruchswortlaut die Ruhestellung oder eine Zwischenstellung sein, die zwischen Ruhe- und Funktionsstellung liegt.
  117. aa)
    „Selbsttätig“ versteht der Fachmann insbesondere vor dem Hintergrund der Beschreibung in Abs. [0007]. Hierin erörtert das Klagegebrauchsmuster, dass im Stand der Technik das Überführen in die Funktionsstellung per Hand zu Sicherheitslücken führt. Dies soll patentgemäß verbessert werden, indem die Aufgabe der Überführung statt händisch vom Benutzer gemäß Merkmal 2 selbsttätig von der Stellungsüberführungseinrichtung übernommen werden. Das Klagegebrauchsmuster verwendet „automatisch“ in Abs. [0007] als Synonym für den Begriff „selbsttätig“.
  118. Die konkrete Art und Weise der Überführung überlasst das Klagegebrauchsmuster dabei zwar grundsätzlich dem Fachmann, schreibt aber in Merkmal 3 mindestens eine Feder als zwingenden Bestandteil der Stellungsüberführungseinrichtung vor. Eine Feder zeichnet sich durch eine automatische Kraftentfaltung aus. Diese soll anspruchsgemäß dazu verwendet werden, das Klappelement zuverlässig in die Funktionsstellung zu bringen. Insofern soll die Bewegung des Klappelements automatisch verlaufen, anstatt – wie vom Klagegebrauchsmuster in Abs. [0007] am Stand der Technik kritisiert – durch eine Bewegung per Hand.
  119. bb)
    Dem Klagegebrauchsmuster geht es bei „selbsttätig“ also nicht um die Auslösung der Überführung in die Funktionsstellung, sondern um die Vermeidung von manuellen Fehlern bei der Durchführung der Überführung. Entsprechend schließt Merkmal 2 nicht jede menschliche Einwirkung bei der Überführung in die Funktionsstellung des Seitenaufprallschutzes aus.
  120. Dies bestätigen Unteranspruch 8 und die Beschreibung des Klagegebrauchsmusters. Nach Unteranspruch 8 umfasst die Betätigungseinrichtung einen Betätigungsknopf, wofür als Beispiel ein Entriegelungsknopf, insbesondere ein Druck- oder Schiebeknopf, genannt wird. Beispielshaft schreibt das Klagegebrauchsmuster in Abs. [0031] f. einen „Betätigungsknopf 12“ vor, um das Klappelement 11 (= Seitenaufprallschutz) zu rotieren. Auch in den Abs. [0037] – [0039] ist unter Bezugnahme auf die Figuren 7 bis 11 beschrieben, dass das Betätigen des Betätigungsknopfs 12 dazu führt, dass das distale Ende des Klappelements 11 frei beweglich wird, so dass aufgrund der Federkraft eines Federelements 31 das Klappelementes 11 in die Funktionsstellung kommt. Die selbsttätige Überführung in die Funktionsstellung liegt damit nicht in der Auslösung der Änderung der Stellung, sondern in deren Durchführung mit Hilfe der Federwirkung.
  121. cc)
    Im Einklang mit den vorstehenden Ausführungen grenzt das Klagegebrauchsmuster die selbsttätige Überführung von der Überführung in eine andere Stellung per Hand ab. Im Zweifel ist gleichen Begriffen im Rahmen eines Anspruchs die gleiche Bedeutung zuzumessen (BGH, GRUR 2017, 152, 154 Rn. 17 – Zungenbett). Der Fachmann versteht „selbsttätig“ in Merkmal 2 wie in Merkmal 4, wonach die Überführung von Funktionsstellung in die Ruhestellung gerade „nicht selbsttätig, sondern per Hand durchgeführt“ werden soll.
  122. c)
    Die Merkmale 5 und 6,
  123. „5 Das Klappelement (11) ist in der Ruhestellung in eine Außenwand (13) des Sitzelementes (10) eingebettet.
  124. 6 Das Klappelement ist auch in der Funktionsstellung teilweise in der Außenwand des Sitzelementes eingebettet, so dass nur ein Abschnitt des Klappelementes über die Außenwand vorragt“,
  125. machen Vorgaben zur Anordnung des Klappelements relativ zur Außenwand des Sitzelements in der Ruhestellung (Merkmal 5) bzw. in der Funktionsstellung (Merkmal 6). Eingebettet ist das Klappelement dabei, wenn es im Wesentlichen bündig mit der Außenwand abschließt und nicht relevant über diese herausragt. Die Außenwand des Sitzelements kann jedes Bauteil aufweisen, das die äußeren, seitlichen Wandungen des Kindersitzes bildet.
  126. aa)
    Das Klagegebrauchsmuster versteht „eingebettet“ in eine Außenwand als Gegensatz zum Vorragen über die Außenwand. Denn nach Merkmal 6 soll das Klappelement teilweise eingebettet sein – dies setzt das Klagegebrauchsmuster erkennbar damit gleich, dass nur ein Abschnitt des Klappelements (her-)vorragt, während dessen restliche Länge weiter eingebettet ist. Im Umkehrschluss ragt das Klappelement in der eingebetteten Ruhestellung nicht über die Außenwand des Sitzelements hervor – es schließt mit der es umgebenden Außenwand ab.
  127. Dieses Verständnis findet der Fachmann in der Beschreibung bestätigt. In Abs. [0027] setzt das Klagegebrauchsmuster „eingebettet“ damit gleich, dass Entriegelungsknopf und Klappelement „zumindest im Wesentlichen bündig in die angrenzenden Abschnitte des Sitzelements übergehen“:
  128. „Wie in Fig. 1 und insbesondere 2 erkennbar, ist sowohl das Klappelement 11 als auch der Entriegelungsknopf 12 in eine Außenfläche 13 des Sitzelementes 10 eingebettet, so dass Entriegelungsknopf 12 und Klappelement 11 (siehe Fig. 2) zumindest im Wesentlichen bündig in die angrenzenden Abschnitte der Außenfläche des Sitzelementes 10 übergehen.“
  129. Zwar handelt es sich hierbei um ein Ausführungsbeispiel, auf das Anspruch 1 grundsätzlich nicht beschränkt werden kann (vgl. BGH, GRUR 2004, 1023 – Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung). Jedoch ist bei der Auslegung zu beachten, dass der Anspruch im Zweifel so auszulegen ist, dass dieser die beschriebenen Ausführungsbeispiele erfasst (BGH, GRUR 2015, 972 – Kreuzgestänge; BGH, GRUR 2015, 875, 876 Rn. 16 – Rotorelemente; BGH, GRUR 2015, 159 Rn. 26 – Zugriffsrechte). Entsprechend entnimmt der Fachmann Abs. [0027], dass ein „eingebettet sein“ auch dann noch vorliegt, wenn das Klappelement nur im Wesentlichen bündig in die angrenzenden Abschnitte der Außenfläche des Sitzelementes übergeht. Dies gilt insbesondere, weil das Klagegebrauchsmuster in Abs. [0027] über die Worte „so dass“ die Einbettung mit einem im Wesentlichen bündigen Übergang allgemein gleichsetzt.
  130. bb)
    Für die Einbettung im Sinne der Merkmale 5 und 6 muss in der Außenwand eine Einbuchtung für das Klappelement vorhanden sein. Denn eine Einbettung liegt nicht vor, wenn das Klappelement auch in der Ruhestellung über die es umgebende Wand in relevanter Weise hervorsteht.
  131. Dies gilt selbst dann, wenn Teile des Sitzes gleichwohl das Klappelement in der Breite überragen. Eingebettet ist das Klappelement erst, wenn es im Wesentlichen bündig zu der es umgebenden Außenwand angeordnet ist. Das Klagegebrauchsmuster möchte, dass das Klappelement in der Ruhestellung in der Außenwand „verschwindet“ und eine einheitliche Fläche vorhanden ist. Entsprechend grenzt das Klagegebrauchsmuster ein eingebettetes Klappelement von dessen Anordnung in einem Überstand an der Außenwand ab. Dies entnimmt der Fachmann Abs. [0014]:
  132. „In konkreten Ausführungsformen kann/können das Klappelement und/oder die Betätigungseinrichtung in die Außenwand des Sitzelementes eingebettet sein. Alternativ ist auch eine seitliche Anbringung mit einem Überstand gegenüber der angrenzenden Fläche der Außenwand des Sitzelementes möglich.“
  133. Während die Einbettung in den Anspruch aufgenommen wurde, gilt dies nicht für die Anbringung in einem Überstand. Das Klagegebrauchsmuster beschreibt als „Alternative“ hier eine andere technische Ausgestaltung und nicht eine mögliche Ausgestaltungsvariante der Einbettung. Ein Überstand gegenüber den angrenzenden Flächen kann nicht unter den Wortsinn von „eingebettet“ gefasst werden.
  134. cc)
    Das Klagegebrauchsmuster verlangt eine Einbettung „in eine Außenwand des Sitzelements“. Die Außenwand ist die äußere, seitliche Wandung des Kindersitzes. Das Klagegebrauchsmuster spricht die Außenwand nur als Referenzpunkt für die räumliche Anordnung des Klappelements an, macht aber hinsichtlich der Ausgestaltung der Außenwand ansonsten keine räumlich-körperlichen oder funktionalen Vorgaben. Aus welchen Bauteil(en), Material(ein) etc. die Außenwand gebildet wird, überlässt das Klagegebrauchsmuster vielmehr dem Fachmann.
  135. d)
    Merkmal 7,
  136. „7 Das Klappelement ragt in der Funktionsstellung um mindestens 50%, jedoch höchstens 80% seiner Länge über die Außenwand des Sitzelementes vor“,
  137. stellt die zahlenmäßige Konkretisierung von Merkmal 6 dar, wonach das Klappelement in der Funktionsstellung teilweise in der Außenwand des Sitzelements eingebettet ist und teilweise über die Außenwand vorragt. Der über die Außenwand hervorragende Teil des Klappelements soll nach Merkmal 7 zwischen 50 und 80 Prozent der Länge des Klappelements ausmachen. Der beanspruchte Bereich stellt sicher, dass das Klappelement ausreichend im Sitzelement verankert sein kann (mit mindestens 20 Prozent), um stabil befestigt zu sein, aber noch ausreichend über die Außenwand vorragt (mit mindestens 50 Prozent).
  138. II.
    Ausgehend vom vorstehend dargestellten Verständnis des Klagegebrauchsmusters kann die Kammer die Schutzfähigkeit des geltend gemachten Anspruchs 1 des Klagegebrauchsmusters feststellen.
  139. 1.
    Gemäß §§ 13 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 1 GebrMG wird der Gebrauchsmusterschutz durch die Eintragung (§ 11 GebrMG) nicht begründet, soweit gegen den als Inhaber Eingetragenen für jedermann ein Anspruch auf Löschung besteht. Ein solcher Löschungsanspruch besteht nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 GebrMG dann, wenn der Gegenstand des Gebrauchsmusters nach den §§ 1 bis 3 nicht schutzfähig ist. Nach den §§ 1 bis 3 GebrMG sind solche Erfindungen einem Gebrauchsmusterschutz zugänglich, die neu sind und auf einem erfinderischen Schritt beruhen.
  140. a)
    Sofern das Verletzungsgericht das Klagegebrauchsmuster nicht für zweifelsfrei schutzunfähig hält und den Verletzungsrechtsstreit deshalb bei einem parallelen Löschungsverfahren gemäß § 19 S. 2 GebrMG zwingend aussetzen muss, ist dem Gericht grundsätzlich gemäß § 19 S. 1 GebrMG ein Aussetzungsermessen eröffnet, wenn es Zweifel an der Schutzfähigkeit hat. Diese Zweifel müssen berechtigt sein, nämlich an konkrete Aspekte der Rechtsbestandsprüfung anknüpfen. Nicht erforderlich ist hingegen, dass das Gericht die Schutzunfähigkeit für überwiegend wahrscheinlich hält, denn anders als bei einem Patent ist die Prüfung der Schutzfähigkeit des Gebrauchsmusters nicht gesetzlich dem Patentamt vorbehalten. Die Aussetzung ist daher bereits dann angebracht, wenn die Möglichkeit der Löschung oder Teillöschung nicht fernliegt (Rogge/Engel, in: Benkard, PatG, Kommentar, 11. Auflage 2015, § 19 GebrMG, Rn. 6).
  141. Die Schutzfähigkeit eines Gebrauchsmusters muss dagegen positiv zur Überzeugung des Verletzungsgerichts feststehen, wenn es aus dem Gebrauchsmuster verurteilen will (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.06.2018 – I-15 W 30/18; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 12. Auflage 2020, Kap. E Rn. 852).
  142. b)
    Dieser grundsätzliche Prüfungsmaßstab ist allerdings regelmäßig nicht mehr anzuwenden, wenn eine Rechtsbestandsentscheidung vorliegt, die die Vermutung des Klagegebrauchsmusters in seiner geltend gemachten Fassung begründet.
  143. aa)
    In dieser Situation handelt es sich bei dem Klagegebrauchsmuster nicht mehr um ein ungeprüftes Schutzrecht, sondern die Rechtsbestandssituation ist vergleichbar mit derjenigen, die bei einem – nach Prüfung durch das fachkundige Amt – erteilten Patent besteht. Auch wenn im Gebrauchsmusterverletzungsverfahren das Trennungsprinzip nicht gilt und das Verletzungsgericht infolge dessen selbstständig über die Schutzfähigkeit des Gebrauchsmusters zu entscheiden hat, ist es sachgerecht, in einer solchen Situation denselben Maßstab anzuwenden wie bei einer Aussetzungsentscheidung betreffend ein Patent nach § 148 ZPO und somit der von einer fachkundigen Stelle beschiedenen Rechtsbeständigkeit Beachtung zu verleihen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.06.2018 – I-15 W 30/18; OLG Karlsruhe, GRUR 2014, 352, 354 – Stanzwerkzeug; Kühnen, a.a.O., Kap. E Rn. 851). Aufgrund der Prüfung und Bejahung der Schutzfähigkeit durch die fachkundige Behördebesteht nunmehr eine Vermutung zu Gunsten des Rechtsbestands des Gebrauchsmusters, der zumindest gleiches Gewicht beizumessen ist wie derjenigen, die an die Erteilung eines Patents anknüpft (OLG Karlsruhe, a.a.O.). Dies wirkt sich spiegelbildlich auf die für eine Verurteilung erforderliche Überzeugung des Verletzungsgerichts von der Schutzfähigkeit des Klagegebrauchsmusters aus.
  144. bb)
    Eine fachkundige Bestätigung des Rechtsbestands des Klagegebrauchsmuster liegt in der Erteilung des EP 3 564 XXX B1 (nachfolgend: EP‘XXX; vorgelegt in Anlage K38). Der Anspruch 1 der EP‘XXX ist weiter als Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters, da bei ersterem die Merkmale 4 und 5 ersatzlos fehlen, während die übrigen Merkmale 1 – 3 und 7 den Anspruch 1 des EP‘XXX bilden. Die Erteilung einer breiteren Anspruchsfassung ermöglicht den Erst-Recht-Schluss, dass Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters in einem Erteilungsverfahren vor demselben Prüfer des Europäischen Patentamts auch als erteilungsfähig ansehen würde.
  145. cc)
    Dagegen kann das EP 3 347 XXX (nachfolgend: EP‘XXX, vgl. Anlage K30) nicht als fachkundige Bestätigung des Rechtsbestands des Klagegebrauchsmuster gewertet werden.
  146. Anspruch 1 des EP‘XXX unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters in relevanter Weise: Statt Merkmal 4 des Klagegebrauchsmuster enthält Anspruch 1 des EP‘XXX folgendes Merkmal:
  147. „wobei das Klappelement (11) in der Funktionsstellung so positioniert und gehalten ist, dass durch ein Ziehen am Klappelement, insbesondere an seinem distalen Ende, eine Arretierung in der Funktionsstellung aufgehoben werden kann, so dass eine Überführung in die Ruhestellung möglich ist.“
  148. Das EP‘XXX ist damit enger als das Klagegebrauchsmuster, da ersteres nur solche Ausführungsformen beansprucht, bei denen die Überführung von der Funktions- in die Ruhestellung auf eine bestimmte Weise vorgenommen wird. Da dieses Merkmal für die Erteilung des EP‘XXX entscheidend gewesen sein könnte, kann eine Rechtsbestandsvermutung des EP‘XXX nicht auf das Klagegebrauchsmuster übertragen werden.
  149. Letztlich kommt es auf das EP‘XXX aber nicht an, da mit dem erteilten EP‘XXX bereits ein Patent vorliegt, welches den Rechtsbestand des Klagegebrauchsmusters stützt.
  150. c)
    Die Vermutung der Schutzfähigkeit wird weiter verstärkt durch den Zwischenbescheid der Gebrauchsmusterabteilung vom 31.08.2020 (Anlage K36). Hiernach geht die Gebrauchsmusterabteilung nach vorläufiger Auffassung davon aus, dass das Klagegebrauchsmuster neu gegenüber dem Stand der Technik ist – wobei die Prüfung die wesentlichen, von den Beklagten angeführte Entgegenhaltungen jedenfalls weitgehend umfasste (vgl. S. 8 Anlage K36).
  151. aa)
    Mit diesem Zwischenbescheid liegt eine summarische, fachkundige Stellungnahme derjenigen Instanz vor, die über den Rechtsbestand des Klagegebrauchsmusters zu entscheiden hat. Diese Stellungnahme ist bei der hier zu treffenden Entscheidung zu berücksichtigen.
  152. Der Zwischenbescheid nimmt die von der Gebrauchsmusterabteilung erst noch zu treffende Entscheidung nicht vorweg; er hat nur vorläufigen Charakter. Gleichwohl handelt es sich aber um eine gewichtige fachkundige Stellungnahme desjenigen Spruchkörpers, der unmittelbar mit dem Rechtsbestand des Klagegebrauchsmusters befasst ist und in erster Instanz über den Löschungsantrag zu entscheiden hat.
  153. Das Gewicht eines Zwischenbescheids zugunsten der Schutzfähigkeit hängt im Einzelfall davon ab, wie deutlich eine Festlegung der Löschungsabteilung erkennbar ist und wie nachvollziehbar eine Auffassung begründet wird.
  154. bb)
    Der Zwischenbescheid stellt eine weitere fachkundige Bestätigung des Rechtsbestands des Klagegebrauchsmusters dar. Die Begründung im Zwischenbescheid erscheint zwar hier eher kurz. Die Gebrauchsmusterabteilung setzt sich aber mit allen wesentlichen Rechtsbestandsangriffen auseinander und lässt jeweils eine bestimmte Auffassung im Ergebnis klar erkennen.
  155. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Auffassung im Zwischenbescheid von der Erteilung des EP‘XXX inhaltlich bestätigt wird, wobei das EP‘XXX von einer anderen fachkundigen Stelle (dem Europäischen Patentamt) stammt, welche die Erteilungsvoraussetzungen unabhängig von der Gebrauchsmusterabteilung bejaht hat.
  156. 2.
    Die Kammer ist von der Rechtsbeständigkeit von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters überzeugt.
  157. Wie bereits unter 1.a) dargelegt, muss die Schutzfähigkeit eines Gebrauchsmusters für eine Verurteilung wegen einer Gebrauchsmusterverletzung grundsätzlich zur Überzeugung des Verletzungsgerichts positiv feststehen. Die Überzeugungsbildung wird allerdings hier von dem erteilten EP‘XXX und dem Zwischenbescheid überlagert und vereinfacht.
  158. 3.
    Da infolge der Eintragung eines Gebrauchsmusters eine Registerposition mit Rechtsschein entsteht, die zur Geltendmachung des Schutzes ohne Rücksicht auf die Schutzfähigkeit berechtigt, ist die Schutzfähigkeit zunächst, das heißt bis zur Erhebung der Einrede, grundsätzlich zu vermuten. Es bedarf insofern nicht der Substantiierung der anspruchsbegründenden Tatsache „Schutzfähigkeit“, so dass der vermeintliche Verletzer jedenfalls die Darlegungslast für das Fehlen der Schutzfähigkeit trägt (Grabinski/ Zülch, in: Benkard, PatG, Kommentar 11. Auflage, 2015, § 24 GebrMG Rn. 18; Meier-Beck, GRUR 1988, 861, 864).
  159. Hiernach kann die Schutzfähigkeit des Klagegebrauchsmusters zur Überzeugung der Kammer festgestellt werden, da die von den Beklagten vorgebrachten Rechtsbestandsangriffe keinen Erfolg versprechen.
  160. a)
    Die Entgegenhaltung EP 0 958 XXX A2 (nachfolgend: EP‘XXX = D1 im Löschungsverfahren; mit Übersetzung vorgelegt als Anlage QE7 bzw. QE8) ist nicht neuheitsschädlich für Anspruch 1 des Klagegebrauchsmuster, da es jedenfalls an einer Offenbarung der Merkmale 1.2, 6 und 7 fehlt.
  161. aa)
    In der EP‘XXX wird ein Kindersitz beschrieben, bei dem an den äußeren Seitenflügel 160, 162 („outer side wings“) bewegliche Seitenflügel 168, 170 („movable side wings“) montiert sind (vgl. Abs. [0020] EP‘XXX). Die Befestigung der beweglichen Seitenflügel an den äußeren Seitenflügel erfolgt über verschiebbar in den äußeren Seitenflügel eingebrachte Stößel (180, 182, „plungers“). Bei einer starken Beschleunigung des Kindersitzes von der Seite läuft ein Trägheitsgewicht 190 nach und drückt eine Feder 168 zusammen. Dies führt letztlich zu einem Verschwenken der beweglichen Seitenflügel nach vorne (vgl. Abs. [0021] EP‘XXX).
  162. Nachfolgend werden zur Erläuterung der Lehre der EP‘XXX deren Figuren 22 und 26 in von den Beklagten bearbeiteten Fassungen (von S. 21 Klageerwiderung = Bl. 75 f. GA) eingeblendet, bei denen die beweglichen Seitenflügel 168 und 170 rot markiert sind:
  163. In der unteren Figur 26 ist der im Bild rechte bewegliche Seitenflügel 168 ausgeklappt.
  164. bb)
    Merkmal 1.2,
  165. „1.2 Der Seitenaufprallschutz ist von einer innerhalb einer vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegenen, Ruhestellung in eine außerhalb der vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegene, Funktionsstellung und umgekehrt bringbar“,
  166. ist in der EP‘XXX nicht hinreichend offenbart. Wie aus den oben eingeblendeten Figuren ersichtlich ist, befinden sich die beweglichen Seitenflügel auch in der ausgeklappten Stellung (vgl. Fig. 26 rechts) noch innerhalb der äußeren Seitenwände. Anders als von Merkmal 1.2 gefordert, kann der in der EP‘XXX gezeigte Sitz durch die beweglichen Seitenflügel nicht „verbreitert“ werden.
  167. Der Argumentation der Beklagten, der Fachmann lese die Verbreiterung mit, kann nicht gefolgt werden. Es kann schon nicht festgestellt werden, dass sich „Kindersitze in der Regel nach vorne aufweiten“, wie die Beklagten vortragen. Selbst wenn man hiervon ausgeht, könnte hieraus nicht gefolgert werden, dass dies bei dem Gegenstand der EP‘XXX auch der Fall ist. Dies widerspräche zudem den oben gezeigten Figuren. Der von den Beklagten ebenfalls angeführte Abs. [0021] EP‘XXX spricht nur an, dass sich das obere Ende des beweglichen Seitenflügels 168 nach vorne über die äußere Seitenwand 160 hinausragt. Er ragt also gerade nicht seitlich über die äußere Seitenwand hinaus.
  168. Auch nach vorläufiger Auffassung der Löschungsabteilung offenbart die EP‘XXX keine Funktionsstellung, in die der Seitenaufprallschutz durch eine Stellungsüberführungseinrichtung geklappt werden könnte (S. 9 f. Anlage K36).
  169. cc)
    Merkmal 6,
  170. „6 Das Klappelement ist auch in der Funktionsstellung teilweise in der Außenwand des Sitzelementes eingebettet, so dass nur ein Abschnitt des Klappelementes über die Außenwand vorragt“,
  171. ist in der EP‘XXX nicht offenbart. Es fehlt jedenfalls an einem abschnittsweisen (Her-) Vorragen des Klappelements über die Außenwand des Kindersitzes. Aus der Gesamtschau von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters entnimmt der Fachmann, dass „vorragen“ in Merkmal 5 als seitliches Überstehen zu verstehen ist. Die beweglichen Seitenflügel in der EP‘XXX ragen aber in der ausgeklappten Stellung – wie zu Merkmal 1.2 ausgeführt – nicht über die Außenwand hinaus, sondern lediglich nach vorne.
  172. dd)
    Merkmal 7 ist schon deshalb nicht in der EP‘XXX offenbart, weil die beweglichen Seitenflügel – wie oben dargelegt – nicht über die Außenwand vorragen.
  173. Selbst wenn man ein Vorragen nach vorne für eine Verwirklichung von Merkmal 7 ausreichen ließe, so findet sich keine Offenbarung in der EP‘XXX, dass die beweglichen Seitenflügel um 50 – 80 Prozent ihrer Länge vorragen. In Fig. 26 EP‘XXX beträgt ein solches Vorragen deutlich unter 50 Prozent der Länge des beweglichen Seitenflügels. Ob man demgegenüber aus Fig. 27 EP‘XXX ein Vorragen von 50 – 80 Prozent ersehen könnte, erscheint fraglich. Der genaue Verlauf des äußeren Seitenflügels lässt sich dieser Figur nicht entnehmen. Darüber hinaus handelt es sich um eine schematische Zeichnung, der man schwerlich genaue Maßangaben entnehmen kann.
  174. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass ein Fachmann den hervorstehenden Teil mit 50 – 80 Prozent der Länge festlegen würde, weil mindestens 50 Prozent für den Seitenaufprallschutz erforderlich sind, aber 20 Prozent eingebettet bleiben müssen, um die Stabilität des beweglichen Seitenflügels zu gewährleisten. Solche Überlegungen erscheinen rückschauend.
  175. b)
    Die Entgegenhaltung WO 2013/XXXXYZ (WO‘XYZ = D2 im Löschungsverfahren; vorgelegt als Anlage QE9 / Anlage K6) stellt die Neuheit des Klagegebrauchsmusters ebenfalls nicht in Frage. Die WO‘XYZ offenbart jedenfalls die Merkmale 2 und 7 von Anspruch 1 nicht hinreichend.
  176. Die Gebrauchsmusterabteilung geht in ihrer vorläufigen Auffassung ebenfalls davon aus, dass in der WO‘XYZ weder eine Stellungsüberführungseinrichtung noch die Anordnung des Klappelements (vgl. S. 9 Anlage K36) offenbart sind.
  177. aa)
    Die WO‘XYZ offenbart einen Kindersitz in Form einer Babyschale mit einer Sitzschale, an deren rückwärtigen Bereich beidseitig ein Seitenaufprallschutz angebracht ist. Dieser besteht aus einem als Klappteil 31 ausgebildeten Seitenelement 30, das um eine Achse 32 rotiert werden kann (vgl. S. 12 Z. 5 – 10 WO‘XYZ). Zur Veranschaulichung wird nachfolgend Fig. 18 der WO‘XYZ verkleinert eingeblendet:
  178. Nachfolgend werden die Figuren 12 und 13 der WO‘XYZ verkleinert eingeblendet. Diese zeigen nach S. 15 Z. 1 – 6 WO‘XYZ das als Klappteil ausgebildete Seitenelement, das sich in Fig. 12 in der Funktionstellung und in Fig. 13 in der Ruhestellung befindet, in der es im Wesentlichen plan an der Seitenfläche 35 der Sitzschale 20 anliegt:
  179. In den nachfolgend gezeigten Fig. 6 und 17 ist eine Feder 39 gezeigt:
  180. bb)
    Merkmal 2 ist in der WO‘XYZ nicht gezeigt. Es ist nicht hinreichend offenbart, dass das Federelement tatsächlich eine automatische Stellungsüberführung bewirkt. Wie aus der S. 9 Z. 5 – 23 WO‘XYZ hervorgeht, drückt das Federelement 39 nicht das Klappteil/Seitenaufprallschutz 30, 31 in die Funktionsstellung, sondern kraftbeaufschlagt den Halteriegel 34 und arretiert so das Klappteil in der ausgeklappten Stellung. Auch die Passage auf S. 14 Z. 23 – 29 WO‘XYZ offenbart nur, dass Federelement 31 und Halteriegel 34 dafür sorgen, dass „das Klappteil 31 gegen ein Zurückfallen in seine Ruhestellung gesichert ist und bis zu einem Betätigen beider Entriegelungstasten 37 in seiner Funktionsstellung verbleibt“. Das Federelement 31 bewegt also den Halteriegel 34, nicht das Klappteil/Seitenaufprallschutz 30, 31 selbst – dieses wird nur durch den Halteriegel arretiert.
  181. Eine Arretierung des Klappteils kann nicht mit einer Überführung gleichgesetzt werden. Eine Arretierung ist das Halten in einer bereits eingenommenen Stellung, nicht die zeitlich davorliegende Überführung in diese Stellung. Damit entnimmt der Fachmann der WO‘XYZ nicht, dass das Federelement das Klappteil selbsttätig in die ausgeklappte Position überführt. Vielmehr ist unklar, wie die Überführung erfolgt.
  182. Dass eine Entriegelungstaste 37 in Fig. 8 und 11 WO‘XYZ gezeigt ist, die erst nach Aufklappen des Klappteils vorhanden ist, steht dem nicht entgegen. Eine Entriegelung der Arretierung ist erst erforderlich, wenn das Klappteil wieder in die eingeklappte Ruhestellung gebracht werden soll. Dies ist aber für die Offenbarung von Merkmal 2 nicht relevant.
  183. cc)
    Merkmal 7 ist in der WO‘XYZ jedenfalls nicht unmittelbar und eindeutig offenbart. Es lässt sich dieser Entgegenhaltung nicht hinreichend entnehmen, dass 50 – 80 Prozent der Länge des Klappteils über die Außenwand vorragen. Die textliche Beschreibung macht hierzu keine konkreten Angaben.
  184. Aus den Figuren lässt sich ebenfalls kein 50 – 80 prozentiges Vorragen über die Außenwand ersehen. Dabei ist zu beachten, dass schematische Darstellungen regelmäßig nur das Prinzip der beanspruchten Vorrichtung offenbaren, nicht aber exakte Abmessungen (BGH, GRUR, 2012, 1242, 1243 m.w.N. – Steckverbindung). Bei den Figuren des Klagegebrauchsmusters handelt es sich um solche schematischen Zeichnungen.
  185. c)
    Die Entgegenhaltung EP 2 275 YYY (nachfolgend: EP‘YYY, vorgelegt als Anlage QE10) ist ebenfalls nicht neuheitsschädlich für Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters.
  186. Die Entgegenhaltung EP‘YYY offenbart jedenfalls Merkmal 3 nicht. Daneben ist die Offenbarung der Merkmale 5 – 7 nicht erkennbar ist.
  187. aa)
    Zur Veranschaulichung der Lehre der EP‘YYY werden nachfolgend deren Figuren 1 und 2 verkleinert eingeblendet. Diese zeigen einen Kindersitz 1 mit einem Energie absorbierenden und/oder übertragenen Element 2 (auch „bogenförmiges Element“ genannt), das sich in Fig. 1 in der Ruhestellung 3 und in Fig. 4 in der Funktionsstellung 4 befindet:
  188. In Abs. [0019] EP‘YYY beschreibt diese Entgegenhaltung:
  189. „[0019] Erfindungsgemäß kann der Kindersitz auch so gestaltet sein, dass das Energie absorbierende und/oder übertragende Element beim Anbringen des Kindersitzes an seinem Bestimmungsort automatisch aus der Ruhestellung in die Funktionsstellung überführt wird. Ebenso wird das Energie absorbierende und/oder übertragende Element vorteilhafterweise beim Entfernen des Kindersitzes von seinem Bestimmungsort automatisch aus der Funktionsstellung in die Ruhestellung überführt.“
  190. In Abs. [0018] EP‘YYY wird dagegen die Möglichkeit einer manuellen Überführung in die beiden Stellungen beschrieben.
  191. bb)
    Eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung von Merkmal 3, wonach die Stellungsüberführungseinrichtung mindestens eine Feder umfasst, lässt sich in der EP‘YYY nicht feststellen.
  192. Die Entgegenhaltung EP‘YYY legt nicht sich nicht auf eine Ausgestaltung fest, wie die automatische Überführung des energieabsorbierenden/ -übertragenden Elements in die Funktionsstellung erfolgen soll. Dass dies mittels einer Feder erfolgen kann, ist nicht ausdrücklich offenbart.
  193. Eine Feder liest der Fachmann auch nicht vor dem Hintergrund von Abs. [0024] mit.
  194. Offenbart kann zwar auch dasjenige sein, was im Patentanspruch und in der Beschreibung nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der Sicht des Fachmanns jedoch für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedarf, sondern „mitgelesen” wird. Die Einbeziehung von Selbstverständlichem erlaubt jedoch keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern dient, nicht anders als die Ermittlung des Wortsinns eines Patentanspruchs, lediglich der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen Information, die der fachkundige Leser der Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt (BGH, GRUR 2009, 382 – Olanzapin; BGH, GRUR 2014, 758 – Proteintrennung).
  195. Demnach liest der Fachmann in der EP‘YYY die Verwendung einer Feder bei der Überführung des bogenförmigen Elements nicht mit. Die EP‘YYY spricht vielmehr allgemein „mechanische oder elektrische Mittel“ an und erläutert dann Ausgestaltungsvarianten, bei denen keine Feder zum Einsatz kommt.
  196. Dass in Abs. [0046] EP‘YYY eine Feder zur Bewegung eines Zylinders angesprochen wird, kann nicht auf die Überführung des bogenförmigen Elements bezogen werden. Dass dem Fachmann der Einsatz von Feder zur Bewegung von Elementen bekannt ist, stellt keine Offenbarung einer Stellungsüberführungseinrichtung mit einer Feder dar. Zwar erscheint die Verwendung einer Feder möglich – dies würde aber weitergehende Überlegungen des Fachmanns erfordern, die über ein Mitlesen hinausgehen.
  197. cc)
    Die Merkmale 5 und 6 werden in der EP‘YYY nicht hinreichend offenbart. Die Entgegenhaltung EP‘YYY zeigt weder ein Klappelement, welches in der Ruhestellung in eine Außenwand des Sitzelementes eingebettet ist (Merkmal 5), noch ein solches, das in der Funktionsstellung teilweise eingebettet ist (Merkmal 6).
  198. Wie aus den oben gezeigten Figuren 1 und 2 EP‘YYY ersichtlich ist, sitzt das energieabsorbierende/-übertragende Element auch in der Ruhestellung auf der Außenwand des Kindersitzes und ist nicht in diese eingebettet. Dies entspricht der Darstellung der anderen Figuren mit diesem Element.
  199. Für eine Offenbarung eine Einbettung müsste man das Verankerungselement des Tragegriffs 8 in der EP‘YYY als Teil der „Außenwand des Sitzelements“ ansehen. Dieses Verankerungselement wird der Fachmann jedoch als Überstand auffassen, während die tatsächliche Seitenwand der Sitzschale als „Außenwand“ anzusehen ist. Gegenüber dieser steht das bogenförmige Element jedoch in der Ruhestellung vor.
  200. dd)
    Nicht hinreichend offenbart in der EP‘YYY ist ferner Merkmal 7. Hinsichtlich der teilweisen Einbettung kann auf die vorstehenden Ausführungen zu den Merkmalen 5 und 6 verwiesen werden. Aber auch wenn man in der EP‘YYY das Verankerungselement des Tragegriffs als Teil der Außenwand ansieht, ist eine klare und eindeutige Offenbarung von Merkmal 7 in der EP‘YYY nicht gegeben.
  201. Für die Offenbarung dieses Merkmals stützt sich die Beklagte auf S. 35 der Klageerwiderung (= Bl. 89 GA) auf eine Messung an Fig. 5 EP‘YYY, aus der sich ein Vorragen um 56 % ergeben soll. Allerdings wird der Fachmann einen solchen exakten Wert nicht einer schematischen Zeichnung wie der Fig. 5 EP‘YYY entnehmen. Eine entsprechende Offenbarung im Beschreibungstext fehlt dagegen.
  202. Dies wird bestätigt von der Auffassung der Gebrauchsmusterabteilung im Zwischenbescheid vom 31.08.2020, wonach die EP‘YYY Merkmal 7 nicht zeigt (S. 9 Anlage K36).
  203. d)
    Das Klagegebrauchsmuster wird nicht von dem Vorbenutzungsgegenstand „J“ (nachfolgend: P) neuheitsschädlich getroffen. Es kann dahingestellt bleiben, ob der P zum Stand der Technik des Klagegebrauchsmusters gehört, da dieser Gegenstand jedenfalls die Merkmale 1.1 und 5 von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters nicht hinreichend offenbart.
  204. aa)
    Der P offenbart keinen Seitenaufprallschutz im Sinne des Klagegebrauchsmusters (Merkmal 1.1). Selbst wenn man unterstellt, dass die Gurtstrafferklappen in der ausgefahrenen Stellung, die nicht der üblichen Nutzung entspricht, unter bestimmten Bedingungen bei einem Seitenunfall vorteilhaft wirken, liegt hierin keine ausreichende Offenbarung eines Seitenaufprallschutz. Ein Fachmann würde die Gurtstrafferklappen ohne rückschauende Betrachtung – also ohne Kenntnis des Klagegebrauchsmusters – nicht als Seitenaufprallschutz in Betracht ziehen.
  205. Zwar schreibt das Klagegebrauchsmuster keine bestimmte Mindestwirkung des Seitenaufprallschutzes vor. Gleichwohl müsste der Fachmann dem P in den Gurtstrafferklappen ohne größere Untersuchungen einen Seitenaufprallschutz sehen, um einen solchen unmittelbar und eindeutig offenbart anzusehen. Es besteht aber für den Fachmann schon kein Anlass, derartige Untersuchungen vorzunehmen. Die Gurtstrafferklappen ausgeklappt zu lassen, um einen Seitenaufprallschutz zu erreichen, erscheint fernliegend.
  206. Auch die Gebrauchsmusterabteilung ist im Zwischenbescheid vom 31.08.2020 im gegen das Klagegebrauchsmuster anhängige Löschungsverfahren der vorläufigen Auffassung, dass die Gurtstrafferklappen „keinen Seitenaufprallschutz darstellen und somit vom Fachmann nicht in Betracht gezogen werden würden“ (S. 9 vorletzter Abs. Anlage K36).
  207. Gegen eine Vorwegnahme dieses Merkmals spricht weiterhin der als fachkundiges Votum zu berücksichtigende Beschluss der Gebrauchsmusterabteilung vom 11.02.2020 in einem anderen Löschungsverfahren (vorgelegt in Anlage K33). Hierin geht die Gebrauchsmusterabteilung ebenfalls davon aus, dass der P keinen Seitenaufprallschutz offenbart, da der Fachmann ihnen nur die Funktion der Gurtstraffung entnehmen könne.
  208. Schließlich sind Beklagten auf die ausführlichen Einwendungen der Klägerin in der Replik hinsichtlich des P schriftsätzlich nicht mehr eingegangen und haben auch in der mündlichen Verhandlung vom 15.09.2020 keine hinreichenden Gründe vorbringen können, aus denen sich die Offenbarung von Merkmal 1.1 im P ergibt.
  209. bb)
    Ferner ist Merkmal 5 im P nicht gezeigt, da die Gurtstrafferklappen in keiner Stellung in eine Außenwand des Sitzelements eingebettet sind. Vielmehr stehen sie über die Außenwand hervor, wie das von den Beklagten auf S. 38 der Klageerwiderung (= Bl. 92 GA) gezeigte Foto belegt, welches nachfolgend eingeblendet wird:
  210. e)
    Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters wird nicht von dem Vorbenutzungsgegenstand „K“ (nachfolgend: „Aton 4“; vgl. die in Anlage QE16 vorgelegte Bedienungsanleitung) neuheitsschädlich vorweggenommen.
  211. Zwar handelt es sich bei dem Aton 4 um Stand der Technik des Klagegebrauchsmusters. Er offenbart aber die Merkmale 2 und 5 von dessen Anspruch 1 nicht.
  212. aa)
    Der Aton 4 zeigt Merkmal 2 des Klagegebrauchsmusters nicht. Dieser Gegenstand weist keine Stellungsüberführungseinrichtung auf, die das Klappelement selbsttätig in die Funktionsstellung überführt.
  213. Zwar wirkt beim manuellen Ausklappen eines Seitenelements des Aton 4 auf dem letzten Stück der Ausklappbewegung eine Feder, welche die Überführung des Seitenelements in die Funktionsstellung unterstützt. Selbst wenn man die Position, in der die Feder zu wirken beginnt, als Zwischenstellung im Sinne von Merkmal 2 ansieht, fehlt es an einer selbsttätigen Überführung. Der Mechanismus des Aton 4 unterstützt vielmehr lediglich die manuelle Bewegung des Seitenelements. Hierdurch wird auch die Funktion der gebrauchsmustergemäßen Stellungsüberführungseinrichtung – die Vermeidung von Bedienungsfehlern – gerade nicht erreicht.
  214. bb)
    Jedenfalls werden die Merkmale 5 bis 7 des Klagegebrauchsmusters vom Aton 4 nicht offenbart.
  215. Die Seitenklappen des Aton 4 sind weder in der Ruhestellung vollständig noch in der Funktionsstellung teilweise in die Außenwand des Sitzelements eingebettet, wie das nachfolgend eingeblendete Bild von S. 25 der Duplik (= Bl. 212 GA) belegt:
  216. Wie auch am eingereichten Muster des Aton 4 erkennbar ist, liegen die Seitenklappen entgegen der Lehre des Klagegebrauchsmusters in Ruhe- und Funktionsstellung auf der sie umgebenden Außenwand auf, statt in diese eingebettet zu sein.
  217. Auch die Gebrauchsmusterabteilung sieht im Aton 4 in ihrer vorläufigen Auffassung die Merkmale 5 bis 7, die den M1.7 bis M1.9 nach der Gliederung der Gebrauchsmusterabteilung entsprechen, als nicht offenbart an (vgl. S. 9 Anlage K36).
  218. f)
    Die Lehre von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters ist auch erfinderisch gegenüber dem Stand der Technik ausgehend von der WO‘XYZ.
  219. Die Parteien stimmen darin überein, dass es sich bei der WO‘XYZ um den nächstliegenden Stand der Technik handelt. Die sich ausgehend von der WO‘XYZ stellende Aufgabe ist damit die weitere Verbesserung der Seitenaufprall-Sicherheit des Kindersitzes, indem Bedienfehler beim Aktivieren des Seitenaufprallschutzes vermieden werden sollen.
  220. aa)
    Die Lehre von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters war nicht durch eine Kombination der WO‘XYZ mit der DE 101 36 XXX C1 (nachfolgend: DE‘XXX; vorgelegt Anlage QE18) im Stand der Technik nahgelegt.
  221. (1)
    Es war für den Fachmann nicht naheliegend, ausgehend von der WO‘XYZ ausgehend die DE‘XXX heranzuziehen, um so zur Lehre von Merkmal 2 zu kommen. Die DE‘XXX offenbart einen Ascher mit einem Push-Push-Mechanismus zum Öffnen des Aschenbechers. Der Fachmann hätte die DE‘XXX nicht herangezogen, da auf deren technischen Gebiet Kräfteverhältnisse und die Übertragung von Energie – im Gegensatz zum Klagegebrauchsmuster – keine Rolle spielen. Dies wird bestätigt durch die vorläufige Ansicht der Gebrauchsmusterabteilung (vgl. S. 10 Anlage K36).
  222. (2)
    Im Übrigen würde es bei der Kombination an einer Offenbarung von Merkmal 7 fehlen.
  223. Die Beklagten tragen bereits nicht vor, dass Merkmal 7 in der DE‘XXX offenbart ist. Entgegen ihrer Auffassung kann dieses Merkmal die Erfindungshöhe des Klagegebrauchsmusters begründen.
  224. Zwar macht die bloße Addition von Maßnahmen eine Aggregation nicht erfinderisch, sofern nicht gerade die Hinzufügung des weiteren Elements besonders schwierig war oder besonders vorteilhaft gelöst oder ein technisches Vorurteil zu überwinden war. Auch eine etwa erforderliche mosaikartige Zusammenstellung bekannter Elemente ist nicht erfinderisch (vgl. BGH, BeckRS 2014, 15816 – Aufzugsystem; Schulte/Moufang, PatG, 10. Aufl. 2015, § 4 Rn. 66).
  225. Ein solcher Fall liegt hier aber hinsichtlich Merkmal 7 nicht vor. Denn wie bei der Auslegung von Merkmal 7 oben dargelegt, hat dieses Merkmal eine Funktion im Rahmen des gesamten Anspruchs 1. Die vorgegebene Aufteilung der Länge soll eine stabile Verankerung des Klappelements am Kindersitz ermöglichen und zugleich ein ausreichend großes Vorragen über die Außenwand gewährleisten. Damit trägt Merkmal 7 zu der Sicherheitswirkung des Seitenaufprallschutzelements bei.
  226. Damit lässt sich Anspruch 1 nicht mit der Argumentation der Rechtsbestand absprechen, dass eine Vorrichtung nach den Merkmalen 1 bis 6 im Stand der Technik vorbekannt oder durch diesen nahegelegt sei, während Merkmal 7 alleine keine Erfindungshöhe begründen könne.
  227. Auch die Gebrauchsmusterabteilung geht in ihren Bescheid vom 31.08.2020 implizit davon aus, dass Merkmal 7 die Erfindungshöhe begründen kann. So geht die Gebrauchsmusterabteilung in Bezug auf die EP‘YYY davon aus, dass von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters nur Merkmal 7 (dort M1.9) nicht offenbart ist. Gleichwohl hält sie die Lehre des Klagegebrauchsmusters für erfinderisch.
  228. bb)
    Die Kombination der WO‘XYZ mit der EP‘XXX, welche oben bereits hinsichtlich der Neuheit diskutiert wurde, legt die Lehre von Anspruch 1 nicht nahe.
  229. (1)
    Die Beklagte hat nicht ausreichend dargelegt, dass der Fachmann die WO‘XYZ mit dem Klappmechanismus der EP‘XXX kombiniert hätte. In der EP‘XXX ist keine anspruchsgemäße Stellungsüberführungseinrichtung offenbart, die ein seitliches Ausklappen des Seitenaufprallschutzes bewirkt. Vielmehr findet eine Bewegung des Seitenaufprallschutzes in der EP‘XXX nur parallel zur Blickrichtung des Kindes statt. Es ist nicht ersichtlich, wie der Mechanismus der EP‘XXX, der bei einer starken Seitwärtsbeschleunigung eine Bewegung nach vorne auslöst, in einem Sitz nach der WO‘XYZ eingearbeitet werden könnte.
  230. (2)
    Ferner ist Merkmal 7 von der Kombination der WO‘XYZ mit der EP‘XXX weder offenbart noch nahegelegt.
  231. Wie bei der Diskussion der Neuheit der Entgegenhaltungen oben bereits ausgeführt wurde, zeigen weder die WO‘XYZ noch die EP‘XXX Merkmal 7. Für das Naheliegen von Merkmal 7 bei der Kombination gilt daher das zur Kombination der WO‘XYZ mit der DE‘XXX Ausgeführte entsprechend. Die Klägerin trägt nicht näher vor, wie der Fachmann ausgehend von der Kombination WO‘XYZ / EP‘XXX zu Merkmal 7 gekommen wäre.
  232. cc)
    Auch die Kombination der WO‘XYZ mit dem Aton 4 legt die Lehre von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters nicht nahe. Zum einen offenbaren weder die Entgegenhaltung WO‘XYZ noch der Vorbenutzungsgegenstand Aton 4 eine Stellungsüberführungseinrichtung im Sinne von Merkmal 2, wie oben bereits ausgeführt wurde. Dies gilt gleichermaßen für die Offenbarung von Merkmal 7.
  233. g)
    Entsprechendes gilt wenn man den Aton 4 als Ausgangspunkt wählt und diesen mit der WO‘XYZ kombiniert. Auch in diesem Fall kommt man nicht zum Gegenstand des Klagegebrauchsmusters, da es an einer Offenbarung der Merkmale 2 und 7 fehlt.
  234. h)
    Der geltend gemachte Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters ist auch ausführbar. Soweit die Beklagten meinen, Anspruch 1 und die Unteransprüche würden kumulativ geltend gemacht, ist dies unrichtig: Anspruch 1 wird isoliert geltend gemacht, die Unteransprüche dagegen nur im Rahmen von Insbesondere-Anträgen. Eine (möglicherweise) mangelnde Ausführbarkeit der Unteransprüche führt nicht zu Zweifeln am Rechtsbestand von Anspruch 1. Eine mangelnde Ausführbarkeit von Anspruch 1 ist auch ansonsten nicht ersichtlich.
  235. Dies wird bestätigt von der vorläufigen Auffassung der Löschungsabteilung, die allgemein die Lehre des Klagegebrauchsmusters für ausführbar hält (vgl. S. 8 Anlage K36).
  236. i)
    Soweit die Beklagten die Wirksamkeit der Inanspruchnahme der inneren Priorität der DE 20 2015 XXX 791 (nachfolgend: DE‘791; Anlage B20b) vom 09.09.2015 angreifen, kann dies – soweit Anspruch 1 insoliert geltend gemacht wird – keine Zweifel am Rechtsbestand begründen.
  237. aa)
    Dass die Merkmale von Anspruch 1 in der DE‘791 nicht offenbart werden, tragen die Beklagten nicht vor. Ihr Vortrag beschränkt sich auf die Diskussion der Offenbarung der Merkmale der Unteransprüche in der DE‘791.
  238. Soweit die Beklagten vortragen, aufgrund der mangelnden Inanspruchnahme seien DE‘791 und WO‘326 neuheitsschädlicher Stand der Technik des Klagegebrauchsmusters, kann dem nicht gefolgt werden. Dass die abgezweigte Gebrauchsmusteranmeldung über die ursprüngliche Patentanmeldung hinausgeht, steht der Wirksamkeit der Abzweigung als solcher bereits nicht entgegen. Aus Änderungen, die gegenüber der Patentanmeldung eine Erweiterung bedeuten, können lediglich keine Rechte hergeleitet werden (BGH, GRUR 2003, 867 – Momentanpol). Der Umfang des Prioritätsrechts bestimmt sich nach dem Gegenstand der früheren Anmeldung, aus der das Prioritätsrecht abgeleitet wird (Benkard PatG/Schäfers, 11. Aufl. 2015, PatG § 40 Rn. 9d). Hierauf verweist die Gebrauchsmusterabteilung auch (vgl. S. 9 Anlage K36).
  239. bb)
    Auch die Gebrauchsmusterabteilung ist der vorläufigen Auffassung, dass das Klagegebrauchsmuster den Anmeldetag der Stammanmeldung in Anspruch nehmen kann, da die Abzweigung dieselbe Erfindung wie die Stammanmeldung betrifft (vgl. S. 6 Anlage K36). Dies betrifft auch die Unteransprüche, bis auf Unteranspruch 22 (vgl. S. 6 ff. Anlage K36) – auf den es aber für die Schutzfähigkeit von Anspruch 1 nicht ankommt.
  240. III.
    Die angegriffenen Ausführungsformen I (hierzu unter 1.) und die angegriffene Ausführungsform II (hierzu unter 2.) machen jeweils von der Lehre des Klagegebrauchsmusters unmittelbar wortsinngemäß Gebrauch.
  241. 1.
    Die angegriffenen Ausführungsformen I verwirklichen Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters unmittelbar wortsinngemäß.
  242. a)
    Die Verwirklichung von Merkmal 2,
  243. „2 Der Kindersitz weist eine Stellungsüberführungseinrichtung auf, die derart ausgebildet ist, dass die Stellungsüberführungseinrichtung selbsttätig den Seitenaufprallschutz von seiner Ruhestellung oder einer Zwischenstellung zwischen Ruhe- und Funktionsstellung in seine Funktionsstellung überführt“,
  244. in den angegriffenen Ausführungsformen I lässt sich feststellen. Bei diesen kann das Seitenelement ausgeklappt werden, ohne dass dieses mit der Hand geführt oder berührt werden muss. Bei einem Zug am Gurtschloss oder an den Sitzgurten wird ein Rastnocken zurückgezogen. Hierdurch kann sich eine Feder ausdehnen, die das Seitenelement in die ausgeklappte Position drückt. Das Gurtschloss dient damit als Betätigungsknopf, während die eigentliche Überführung in die Funktionsstellung selbsttätigt abläuft.
  245. Der Gebrauchsmusterverletzung steht es nicht entgegen, dass bei den angegriffenen Ausführungsformen I neben der dargelegten „selbsttätigen Überführung“ auch die Möglichkeit besteht, das Seitenelement manuell in die ausgeklappte Stellung zu bringen.
  246. b)
    Merkmal 5,
  247. „5 Das Klappelement (11) ist in der Ruhestellung in eine Außenwand (13) des Sitzelementes (10) eingebettet“,
  248. wird von den angegriffenen Ausführungsformen I verwirklicht. Wie oben unter Ziffer I.5.c) dargelegt, ist das Klappelement „eingebettet“ im Sinne von Merkmal 5, wenn es – jedenfalls im Wesentlichen – bündig mit der Außenwand abschließt und nicht über diese herausragt. Dies ist bei den angegriffenen Ausführungsformen I der Fall. Der Überstand des Klappelements ist vernachlässigbar, wie die Kammer anhand eines Musters der angegriffenen Ausführungsformen I feststellen konnte.
  249. c)
    Dass die übrigen Merkmale von Anspruch 1 von den angegriffenen Ausführungsformen I verwirklicht werden, steht zwischen den Parteien zu Recht nicht in Streit, so dass hierzu weitere Erörterungen nicht mehr erforderlich sind.
  250. 2.
    Auch hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsform II lässt sich eine Verwirklichung aller Merkmale von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters feststellen.
  251. a)
    Merkmal 1.2,
  252. „1.2 Der Seitenaufprallschutz ist von einer innerhalb einer vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegenen, Ruhestellung in eine außerhalb der vorgegeben Breite, insbesondere Standardbreite, gelegene, Funktionsstellung und umgekehrt bringbar“,
  253. ist bei der angegriffenen Ausführungsform II verwirklicht.
  254. Bei der Bestimmung der Breite ist der Sitzbezug zu berücksichtigen, da dieser Teil des vertriebenen Gegenstands ist. Hierauf kommt es aber letztlich nicht an, weil Merkmal 1.2 auch dann verwirklicht ist, wenn das Klappelement in der Ruhestellung der seitlich äußerste Punkt ist.
  255. Die Seitenelemente sind bei der angegriffenen Ausführungsform – wie bei der Erörterung von Merkmal 5 näher dargelegt wird – in die Außenwand eingebettet, da sie im wesentlich bündig mit den Außenwänden abschließen. Strengere Vorgaben diesbezüglich lassen sich aus Merkmal 1.2 nicht herleiten. Dass ein Ausklappen der Seitenelemente die angegriffene Ausführungsform II in seiner Breite vergrößert, bestreiten auch die Beklagten nicht.
  256. b)
    Hinsichtlich der Verwirklichung von Merkmal 2 durch die angegriffene Ausführungsform II kann auf die Ausführungen zu den angegriffenen Ausführungsformen I verwiesen werden, die insofern baugleich sind.
  257. c)
    Merkmal 5 ist auch bei der angegriffenen Ausführungsform II verwirklicht.
  258. Der Verwirklichung von Merkmal 5 steht bei der angegriffenen Ausführungsform II nicht entgegen, dass sich die Seitenelemente in einem (weiteren) Seitenschutzelement aus Schaumstoff (EPP) befinden. Die gebrauchsmustergemäße Außenwand des Sitzelements kann auch aus einem solchen Bauteil gebildet werden (vgl. die Ausführungen zur Auslegung von Merkmal 5). Der Schaumstoff und der hierüber angeordnete Bezug sind Teil des Kindersitzes, also der angegriffenen Ausführungsform II.
  259. Hiernach sind die Seitenelemente in der Ruhestellung im Wesentlichen bündig mit der Außenwand des Sitzelements, was Merkmal 5 verwirklicht. Zur Veranschaulichung wird das (ursprünglich von S. 9 Anlage K25 kommende) Bild von Seite 17 der Duplik (Bl. 204 GA) eingeblendet:
  260. d)
    Die Verwirklichung der übrigen Merkmale von Anspruch 1 durch die angegriffene Ausführungsform II steht zwischen den Parteien zu Recht nicht in Streit, so dass Erörterungen hierzu entbehrlich sind.
  261. IV.
    Die Beklagten nehmen, ohne dazu berechtigt zu sein, Benutzungshandlungen in der Bundesrepublik Deutschland vor, § 11 Abs. 1 S. 2 GebrMG, wobei die Klägerin Benutzungshandlungen der Beklagten zu 2) nur hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsformen I angreift.
  262. 1.
    Die Beklagte zu 1) bietet die angegriffenen Ausführungsformen I und II an und bringt diese im Inland in Verkehr, was von den Beklagten nicht in Abrede gestellt wird.
  263. 2.
    Die Beklagte zu 2) bietet die angegriffene Ausführungsformen I ebenfalls an und bringt diese in Verkehr.
  264. a)
    Die Beklagte zu 2) bieten die angegriffenen Ausführungsformen I im Inland an.
  265. Das Anbieten ist nicht nur eine dem Herstellen, Inverkehrbringen, Gebrauchen, Einführen oder Besitzen vorausgehende Vorbereitungshandlung, sondern eine eigenständige Benutzungsart neben diesen Handlungen, die selbstständig zu beurteilen und für sich allein anspruchsbegründend ist (vgl. BGH, GRUR 2003, 1031 – Kupplung für optische Geräte; GRUR 2006, 927, 928 – Kunststoffbügel; GRUR 2007, 221, 222 – Simvastin; OLG Düsseldorf, GRUR 2004, 417, 419 – Cholesterinspiegelsenker; Urt. v. 20.12.2012 – Az. I-2 U 89/07, BeckRS 2013, 11856; Urt. v. 30.10.2014 – Az. I-2 U 3/14, BeckRS 2014, 21755). Der Begriff des Anbietens ist rein wirtschaftlich zu verstehen. Er umfasst jede im Inland begangene Handlung, die nach ihrem objektiven Erklärungswert den Gegenstand der Nachfrage in äußerlich wahrnehmbarer Weise zum Erwerb der Verfügungsgewalt bereitstellt (BGH, GRUR 2006, 927 – Kunststoffbügel; OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.02.2014, Az. I-2 U 42/13 = BeckRS 2014, 05732; Urt. v. 27.03.2014, Az.: I-15 U 19/14 = BeckRS 2014, 16067). Es ist daher unerheblich, ob der Anbietende den Gegenstand selbst herstellt oder ob er ihn von dritter Seite bezieht (BGH, GRUR 2006, 927, 928 – Kunststoffbügel). Nach
    geltendem Recht ist Voraussetzung für ein Anbieten grundsätzlich auch nicht das tatsächliche Bestehen einer Herstellungs- und/oder Lieferbereitschaft (BGH, GRUR 2003, 1031, 1032 – Kupplung für elektrische Geräte; OLG Düsseldorf, InstGE 2, 125 128 f. – Kamerakupplung). Maßgeblich ist, ob mit der fraglichen Handlung tatsächlich eine Nachfrage nach dem schutzrechtsverletzenden Gegenstand geweckt wird, die zu befriedigen mit dem Angebot in Aussicht gestellt wird (OLG Düsseldorf, Urteil vom 13.02.2014 – 2 U 42/13; OLG Düsseldorf, Urteil vom 27.03.2014 – 15 U 19/14, GRUR-RS 2014, 16067). Ein Mittel hierzu ist auch die bloße Bewerbung eines Produkts im Internet, da dies bereits dazu bestimmt und geeignet ist, Interesse an dem beworbenen Gegenstand zu wecken und diesen betreffende Geschäftsabschlüsse zu ermöglichen (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2007, 259, 261 – Thermocycler).
  266. Hiernach liegen Angebotshandlungen der Beklagten zu 2) in Bezug auf die angegriffene Ausführungsform I vor. Sie ist verantwortliche Eigentümerin einer Internetseite, auf der die angegriffenen Ausführungsformen I in deutscher Sprache beworben werden. Dem steht der Vortrag der Beklagten, die Beklagte zu 2) sei nur für den Vertrieb in H, nicht aber für den europaweiten Vertrieb verantwortlich, nicht entgegen. Die Beklagten bestreiten nicht die Verantwortung der Beklagten zu 2) für die Internetseite, auf denen die angegriffenen Ausführungsformen I beworben werden.
  267. b)
    Auch belegen die Aufkleber mit Namen und Adresse der Beklagten zu 2) auf den angegriffenen Ausführungsformen I eine Mitwirkung beim Inverkehrbringen. Dem sind die Beklagten nicht entgegentreten.
  268. c)
    Hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsform II macht die Klägerin gegen die Beklagte zu 2) keine Ansprüche geltend.
  269. V.
    Aufgrund der festgestellten Gebrauchsmusterverletzungen der Beklagten ergeben sich die nachfolgenden Rechtsfolgen.
  270. 1.
    Der Klägerin steht ein Unterlassungsanspruch gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 GebrMG gegen die Beklagten zu.
  271. 2.
    Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz dem Grunde nach aus § 24 Abs. 1 und 2 GebrMG.
  272. a)
    Es fehlt nicht an dem nach § 24 Abs. 2 GebrMG notwendigen Verschulden.
  273. Wird ein Gebrauchsmuster verletzt, kann, da es ohne materielle Prüfung seiner Schutzfähigkeit eingetragen wird, ein Verschulden nur angenommen werden, wenn der Benutzer mit der Schutzfähigkeit rechnen musste (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR-RS 2018, 13140). Dabei darf sich der Benutzer nicht stets damit begnügen, nur auf den eingetragenen Hauptanspruch zu achten und weitere Prüfungen schon dann einstellen, wenn er dessen Schutzfähigkeit in Zweifel ziehen kann. Er muss vielmehr auch mit der immer wieder eintretenden Möglichkeit rechnen, dass ein Gebrauchsmuster eingeschränkt aufrechterhalten wird, indem sein eingetragener Hauptanspruch mit Unteransprüchen kombiniert wird (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2012, 62, 66 – Türlagerwinkel).
  274. Danach begingen die Beklagten die Gebrauchsmusterverletzungen schuldhaft. Als Fachunternehmen hätten sie die Schutzrechtsverletzung bei Anwendung der im Geschäftsverkehr erforderlichen Sorgfalt zumindest erkennen können, § 276 BGB. Sie mussten zudem mit der Schutzfähigkeit des Gebrauchsmusters rechnen.
  275. b)
    Es ist weiterhin wahrscheinlich, dass der Klägerin durch die Gebrauchsmusterverletzungen ein Schaden entstanden ist. Das für die Zulässigkeit des Feststellungsantrags erforderliche Feststellungsinteresse (§ 256 ZPO) ergibt sich daraus, dass die Klägerin derzeit nicht in der Lage ist, die Höhe des ihr zustehenden Schadensersatzes zu beziffern und ohne eine rechtskräftige Feststellung der Schadensersatzpflicht die Verjährung ihrer Ansprüche droht.
  276. c)
    Die Beklagten haften hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsformen I als Gesamtschuldner; im Hinblick auf die angegriffene Ausführungsform II haftet die Beklagte zu 1) alleine.
  277. 3.
    Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsformen I und II ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstands unmittelbar aus § 24b Abs. 1 GebrMG, der Umfang der Auskunftspflicht aus § 24b Abs. 3 GebrMG.
  278. Die weitergehende Auskunftspflicht und die Verpflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, den ihr zustehenden Schadensersatzanspruch zu beziffern. Die Klägerin ist auf die tenorierten Angaben angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt, während die Beklagten durch die von ihnen verlangten Angaben nicht unzumutbar belastet werden.
  279. Allerdings war die Klage abzuweisen, soweit die Klägerin im Rahmen des Rechnungslegungsanspruchs auch eine Belegvorlage zu den Lieferungen verlangt hat. Für den Anspruch aus §§ 242, 259 BGB kann eine Belegvorlage allenfalls verlangt werden, wenn dies ausnahmsweise der Üblichkeit entspricht (vgl. Kühnen, Hdb. der Patentverletzung, 12. Aufl. 2020, Kap. D. Rn. 646), was nicht ersichtlich ist. Soweit eine Belegvorlage für Lieferungen im Rahmen des Anspruchs nach § 24b GebrMG beansprucht werden kann, ist diese in Ziff. I.2. zuerkannt worden.
  280. 4.
    Weiterhin hat die Klägerin gegen die Beklagten im tenorierten Umfang einen Anspruch auf Rückruf der gebrauchsmusterverletzenden Erzeugnisse aus den Vertriebswegen gemäß § 24a Abs. 2 GebrMG. Die Inanspruchnahme ist hier nicht im Einzelfall unverhältnismäßig im Sinne von § 24a Abs. 3 GebrMG.
  281. Ein Rückruf ist unverhältnismäßig, wenn sein Zweck ebenso effektiv auf andere Weise
    als durch einen vollständigen Rückruf des Erzeugnisses gegen Erstattung des Kaufpreises erreicht werden kann (zur entsprechenden Norm im Patentrecht: BeckOK PatR/Rinken, 14. Ed. 15.10.2019, PatG § 140a Rn. 29.1 und 46). Verfügt der Verletzer bereits über eine gebrauchsmusterfreie Ausweichtechnik, die er seinem Abnehmer im Austausch gegen den Verletzungsgegenstand anbieten kann, so ist daher eine Rücknahme des Verletzungsgegenstandes gegen Erstattung des Kaufpreises unverhältnismäßig, weil mit der Rücknahme gegen gebrauchsmusterfreie Ersatzlieferung ein milderes Mittel zur Verfügung steht, mit dem die Störung ebenso sicher und endgültig beseitigt werden kann. Die gilt jedenfalls, wenn ausgeschlossen ist, dass durch nachträgliche Manipulation wieder der gebrauchsmusterverletzende Zustand hergestellt und das Objekt alsdann wieder in den Verkehr gebracht wird (zum Patentrecht: OLG Düsseldorf, InstGE 7, 139 – Thermocycler zum Vernichtungsanspruch OLG Düsseldorf, Urteil vom 19.07.2018 – I-15 U 43/15 – Rn. 136 bei Juris m.w.N.).
  282. Allerdings haben die Beklagten eine solche Austauschlösung vorliegend nicht hinreichend konkret beschrieben. Ihr Vortrag, man könne die Feder oder das Seilzugsystem entfernen, dürfte zwar zu einer gebrauchsmusterfreien Ausführungsform führen. Allerdings legen die Beklagten nicht dar, wie dieser Kindersitz konkret gestaltet bzw. die angegriffenen Ausführungsformen umgestaltet werden sollten. Vielmehr wird nun pauschal die Entfernung bzw. Unbrauchbarmachung von Teilen vorgeschlagen, ohne dass klar ist, welche der beiden Maßnahmen die Beklagten wie umsetzen wollen. Im Gegenteil deutet ihr Vortrag, aufgrund der Sicherheitsstandards und vorgeschriebenen Testprozeduren benötigten die Beklagten für die Umstellung Zeit, darauf hin, dass eine solche Austauschlösung jedenfalls noch nicht verfügbar ist. Auch ist nicht ersichtlich, dass eine gebrauchsmusterfreie Alternative derzeit von den Beklagten vertrieben wird.
  283. Die Beklagten sind in der mündlichen Verhandlung vom 15.09.2020 vom Gericht darauf hingewiesen worden, dass sie etwaige Ausweichlösungen nicht konkret genug vorgetragen haben. Gleichwohl sind sie auf diesen Punkt nicht eingegangen.
  284. Entsprechend ist den Beklagten auch keine Austauschfrist für den Umtausch der gebrauchsmusterverletzenden Kindersitze zu gewähren.
  285. 5.
    Schließlich hat die Klägerin gegen die Beklagte zu 1) einen Anspruch auf Vernichtung gebrauchsmusterverletzender Gegenstände aus § 24a Abs. 1 GebrMG.
  286. Insoweit liegt ebenfalls keine Unverhältnismäßigkeit nach § 24a Abs. 3 GebrMG vor; auf die vorstehenden Ausführungen zum Rückrufanspruch wird verwiesen.
  287. Die Klägerin kann den Anspruch von vornherein in der Form geltend machen, dass die gebrauchsmusterverletzenden Gegenstände an einen zur Vernichtung bereiten Gerichtsvollzieher herauszugeben sind (vgl. BGH, GRUR2003, 228, 229 f. – P-Vermerk zu § 98 UrhG; Kühnen, Hdb. der Patentverletzung, 12. Aufl. 2020, Kap D Rn. 691).
  288. VI.
    Die Kammer setzt das Verfahren nicht im Rahmen des ihr nach § 19 S. 1 GebrMG zustehenden Ermessen im Hinblick auf das anhängige Löschungsverfahren aus. Wie oben dargelegt, ist von der Schutzfähigkeit des Klagegebrauchsmusters auszugehen.
  289. VII.
    Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 100 Abs. 1, Abs. 4, 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Das Unterliegen der Partei – hinsichtlich der Belegvorlage im Rahmen des Rechnungslegungsanspruchs – ist sehr geringfügig.
  290. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO. Auf Antrag der Klägerin waren Teilsicherheiten für die vorläufige Vollstreckbarkeit einzelner Ansprüche festzusetzen.
  291. VIII.
    Der Streitwert wird auf bis zu EUR 1.000.000,00 festgesetzt, wovon EUR 50.000,00 auf die Feststellung der Pflicht zum Leisten von Schadensersatz entfallen, soweit die Verurteilung als Gesamtschuldner erfolgt.

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