I – 2 U 4/21 – Cinacalcet Cinacalcet-Schnellauflösungsformulierung

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3149

Oberlandesgericht Düsseldorf

Urteil vom 02. September 2021, Az.I-2 U 4/21

Vorinstanz: 4c O 56/20

  1. I. Auf die Berufung wird das am 15.01.2021 verkündete Urteil der 4c Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf (Az. 4c O 56/20) abgeändert und wie folgt neu gefasst:
  2. 1. Der Verfügungsbeklagten wird im Wege der einstweiligen Verfügung untersagt
  3. eine pharmazeutische Zusammensetzung, umfassend
  4. a) von 5 % bis 40 % nach Gewicht an Cinacalcet-HCl
  5. b) einen pharmazeutisch akzeptablen Arzneistoffträger, umfassend mikrokristalline Cellulose und Stärke in einem Gewichtsverhältnis im Bereich von 1:1 – 1:15;
  6. wobei mindestens eine Dosierungseinheit der pharmazeutischen Zusammensetzung ein Auflösungsprofil in 0,05 N HCl aufweist, gemessen gemäß einem Auflösungstest, der in einer USP 2-Vorrichtung bei einer Temperatur von 37°C ± 0,5°C und bei einer Rotationsgeschwindigkeit von 75 U/min durchgeführt wird, die von 50 % bis 125 % einer Zielmenge des Cinacalcets umfasst, die nicht später als etwa 30 Minuten nach Beginn des Tests aus der Zusammensetzung freigesetzt wird, nämlich
  7. Cinacalcet-ratiopharm 30 mg Filmtabletten (Zulassungs-/Reg. Nr. (AMG76): 92879.00.00; EU-Verfahren: DE/H/42022/001/DC),
  8. Cinacalcet ratiopharm 60 mg Filmtabletten (Zulassungs-/Reg. Nr. (AMG76): 92880.00.00; EU-Verfahren: DE/H/4202/002/DC),
  9. Cinacalcet ratiopharm 90 mg Filmtabletten (Zulassungs-/Reg. Nr. (AMG76): 92881.00.00; EU-Verfahren: DE/H/4202/003/DC),
  10. in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen.
  11. 2. Der Verfügungsbeklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen dieses gerichtliche Verbot als Zwangsvollstreckungsmaßnahme Ordnungsgeld bis zu EUR 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, im Falle mehrfacher Zuwiderhandlung bis zu insgesamt 2 Jahren, jeweils zu vollziehen an ihrem Geschäftsführer, angedroht.
  12. II. Die Verfügungsbeklagte trägt die Kosten des einstweiligen Verfügungsverfahrens.
  13. III. Die Vollziehung der einstweiligen Verfügung ist davon abhängig, dass die Verfügungsklägerin zuvor eine Sicherheit in Höhe von EUR 1.000.000,00 leistet.
  14. IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf EUR 1.000.000,00 festgesetzt.
  15. Gründe
  16. I.
  17. Die Verfügungsklägerin geht aus dem Verfügungspatent – dem deutschen Teil des EP 3 260 XXA – im Wege des einstweiligen Verfügungsverfahrens gegen den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform – einem Generikum – durch die Verfügungsbeklagte vor. Gegen die Erteilung des Verfügungspatents sind mehrere Einsprüche eingelegt worden. Mit Entscheidung vom 07.07.2021 – also zeitlich zwischen der mündlichen Verhandlung vor dem Senat und dem hierin festgesetzten Verkündungstermin – wurde das Verfügungspatent von der Einspruchsabteilung im Umfang des geltend gemachten Anspruchs 1 wie erteilt aufrechterhalten.
  18. Das Landgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mit Urteil vom 15.01.2021 zurückgewiesen und dies damit begründet, dass die Verfügungsklägerin bei der Durchsetzung des Verfügungspatents und insbesondere bei der Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform zu zögerlich vorgegangen sei, so dass mangels Dringlichkeit kein Verfügungsgrund bestehe.
  19. Dies greift die Verfügungsklägerin mit der Berufung an. Die Verfügungsbeklagte verteidigt das angefochtene Urteil und ist ferner der Auffassung, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht ausreichend gesichert sei. Sollte die Einspruchsabteilung das Verfügungspatent aufrechterhalten, könne dies nur auf evident falschen Erwägungen beruhen.
  20. II.
  21. Die Berufung der Verfügungsklägerin ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Das Landgericht hat zu Unrecht den Erlass einer einstweiligen Verfügung mit der Begründung verweigert, ein Verfügungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht, da die Sache nicht dringlich sei. Auch im Übrigen liegen die Voraussetzungen zum Erlass der beantragten einstweiligen Verfügung vor.
  22. Die Verfügungsklägerin hat aus dem Verfügungspatent (vorgelegt mit Übersetzung in Anlage rop 1/1a) einen Verfügungsanspruch auf Unterlassung aus Art. 64 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 PatG. Die Verfügungsbeklagte macht durch den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform von der Lehre des Verfügungspatents entgegen § 9 Satz 2 Nr. 1 PatG Gebrauch, was die Verfügungsbeklagte nicht in Abrede stellt.
  23. Außer dem Verfügungsanspruch ist auch ein Verfügungsgrund glaubhaft gemacht. Der Rechtsbestand des Verfügungspatents ist für den Erlass einer einstweiligen Verfügung ausreichend gesichert (hierzu unter 2.). Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Sache zudem dringlich (hierzu unter 3.).
  24. 1.
    Das Verfügungspatent trägt den Titel „Schnellauflösungsformulierung enthaltend Cinacalcet HCl“ und beansprucht eine pharmazeutische Zusammensetzung.
  25. In seiner einleitenden Beschreibung schildert das Verfügungspatent, dass kalziumrezeptoraktive Verbindungen wie Cinacalcet-HCl im Stand der Technik als Arzneimittelwirkstoff bekannt sind. Solche kalziumrezeptoraktiven Verbindungen können insbesondere in ihrem nicht-ionisierten Zustand unlöslich oder kaum löslich in Wasser sein. So hat Cinacalcet eine Löslichkeit in Wasser von weniger als 1 μg/ml bei neutralem pH-Wert. Seine Löslichkeit kann sich bis ungefähr 1,6 mg/ml steigern, wenn der pH-Wert von ungefähr 3 bis ungefähr 5 reicht, und die Löslichkeit von Cinacalcet sinkt auf ungefähr 0,1 mg/ml, wenn der pH-Wert bei 1 liegt (Abs. [0002]).
  26. Das Verfügungspatent bemerkt hierzu, dass eine – wie geschildert – begrenzte Löslichkeit die Anzahl der pharmazeutischen Formulierungen (z.B. Tablette, Kapsel, Pulver) und der Zufuhroptionen, die für die kalziumrezeptoraktiven Verbindungen verfügbar sind, reduzieren kann. Eine begrenzte Wasserlöslichkeit kann weiterhin zu einer niedrigen Bioverfügbarkeit der arzneilichen Verbindungen im Patienten führen (Abs. [0002]).
  27. Ausgehend hiervon sieht das Verfügungspatent ein Bedürfnis, die Auflösbarkeit der kalziumrezeptoraktiven Verbindungen aus einer Dosierform möglichst während der in vivo-Exposition zu maximieren und hierdurch – während der in vivo-Exposition – die Bioverfügbarkeit der kalziumrezeptoraktiven Verbindung zu verbessern (Abs. [0003]).
  28. Zur Lösung dieses technischen Problems schlägt das Verfügungspatent in seinem Anspruch 1 eine pharmazeutische Zusammensetzung mit den folgenden Merkmalen vor:
  29. 1. Die pharmazeutische Zusammensetzung umfasst
    a) 5 % bis 40 % nach Gewicht an Cinacalcet-HCl sowie
    b) einen pharmazeutisch akzeptablen Arzneistoffträger,
    der mikro-kristalline Cellulose und Stärke in einem Gewichtsverhältnis im Bereich von 1 : 1 bis 15 : 1 umfasst.
    2. Mindestens eine Dosierungseinheit der pharmazeutischen Zusammensetzung weist ein Auflösungsprofil in 0,05 N HCl auf,
    – gemessen gemäß einem Auflösungstest, der in einer USP 2-Vorrichtung bei einer Temperatur von 37° C  0,5° C und bei einer Rotationsgeschwindigkeit von 75 U/min durchgeführt wird,
    – die 50 % bis 125 % einer Zielmenge des Cinacalcets umfasst, die nicht später als etwa 30 Minuten nach Beginn des Tests aus der Zusammensetzung freigesetzt wird.
    Wie sich aus dem erläuternden Beschreibungstext ergibt, repräsentiert das „Auflösungsprofil“ denjenigen Prozentsatz des aktiven pharmazeutischen Bestandteils, der – gemessen an der Zielmenge der kalziumrezeptoraktiven Verbindung in der Arzneimittelformulierung – nicht später als 30 Minuten nach Beginn des Tests freigesetzt und damit therapeutisch verfügbar wird. Maßgeblich für den Eintritt dieses Effekts ist nicht nur die besondere stoffliche Ausstattung des Trägerstoffs entsprechend dem Merkmal 1b (mikro-kristalline Cellulose und Stärke in einem Gewichtsverhältnis von 1 : 1 bis 15 : 1), sondern genauso die Menge an arzneilichem Cinacalcet-HCl-Wirkstoff in der Zusammensetzung gemäß dem Merkmal 1a (5 bis 40 Gew.-%).
  30. 2.
    Der Rechtsbestand des Verfügungspatents ist für den Erlass der begehrten einstweiligen Verfügung ausreichend gesichert.
  31. a)
    Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (InstGE 9, 140 = GRUR-RR
    2008, 329 – Olanzapin; InstGE 12, 114 = Mitt. 2011, 193 – Harnkatheter; GRUR-RR 2011, 81 = Mitt. 2012, 178 – Gleitsattel-Scheibenbremse; Urteil vom 20.01.2011 – I-2 U 92/10 = BeckRS 2011, 03266; Urteil vom 24.11.2011 – I-2 U 55/10 = BeckRS 2011, 08596; Urteil vom 06.12.2012 – I-2 U 46/12 = BeckRS 2013, 13744; Mitt. 2012, 415 – Adapter für Tintenpatrone; GRUR-RR 2013, 236, 239 f. – Flupirtin-Maleat; Urteil vom 07.11.2013 – I-2 U 94/12, GRUR-RR 2014, 240; Urteil vom 21.01.2016 – I-2 U 48/15 = BeckRS 2016, 03306; Urteil vom 19.02.2016 – I-2 U 54/15 = BeckRS 2016, 06344; Urteil vom 04.03.2021 – 2 U 25/20 = GRUR-RS 2021, 4420 – Cinacalcet II), dass der Erlass einer einstweiligen Verfügung insbesondere auf Unterlassung nur in Betracht kommt, wenn sowohl die Frage der Patentverletzung als auch der Bestand des Verfügungspatents im Ergebnis so eindeutig zugunsten des Antragstellers (Verfügungsklägers) zu beantworten sind, dass eine fehlerhafte, in einem etwa nachfolgenden Hauptsacheverfahren zu revidierende Entscheidung nicht ernstlich zu erwarten ist.
  32. aa)
    Von einem derart gesicherten Rechtsbestand kann regelmäßig nur ausgegangen werden, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat (Senat, InstGE 9, 140, 146 – Olanzapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; Urteil vom 18.12.2014 – I-2 U 60/14 = BeckRS 2015, 01829; Urteil vom 10.12.2015 – I-2 U 35/15 = BeckRS 2016, 06028; Urteil vom 31.08.2017 – I-2 U 6/17 = BeckRS 2017, 125978; OLG Karlsruhe, GRUR-RR 2015, 509 – Ausrüstungssatz; OLG München, GRUR 2020, 385 – Elektrische Anschlussklemme; a.A. OLG Braunschweig, Mitt. 2012, 410).
  33. bb)
    Aus der regelmäßigen Notwendigkeit einer positiven streitigen Rechtsbestandsentscheidung folgt umgekehrt, dass, sobald sie vorliegt, prinzipiell von einem ausreichend gesicherten Bestand des Verfügungspatents auszugehen ist (Senat, Urteil vom 10.11.2011 – I-2 U 41/11; Urteil vom 19.02.2016 – I-2 U 54/15 = BeckRS 2016, 06344; Urteil vom 31.08.2017 – I-2 U 6/17 = BeckRS 2017, 125978; Urteil vom 14.12.2017 – I-2 U 17/17 = BeckRS 2017, 150889; Urteil vom 04.07.2019 – I-2 U 81/18). Ungeachtet seiner Pflicht, auch nach erstinstanzlichem Abschluss eines Rechtsbestandsverfahrens selbst ernsthaft die Erfolgsaussichten der dagegen gerichteten Angriffe zu prüfen, um sich in eigener Verantwortung ein Bild von der Schutzfähigkeit der Erfindung zu machen (Senat, InstGE 8, 122 – Medizinisches Instrument; Urteil vom 18.12.2014 – I-2 U 60/14 = BeckRS 2015, 01829), hat das Verletzungsgericht grundsätzlich die von der zuständigen Fachinstanz (DPMA, EPA, BPatG) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Verfügungspatents hinzunehmen und, sofern im Einzelfall keine besonderen Umstände vorliegen, die gebotenen Schlussfolgerungen zu ziehen, indem es zum Schutz des Patentinhabers die erforderlichen Unterlassungsanordnungen trifft (Senat, Urteil vom 10.11.2011 – I-2 U 41/11; Urteil vom 19.02.2016 – I-2 U 54/15 = BeckRS 2016, 06344; Urteil vom 31.08.2017 – I-2 U 6/17 = BeckRS 2017, 125978; Urteil vom 14.12.2017 – I-2 U 17/17 = BeckRS 2017, 150889; Urteil vom 04.07.2019 – I-2 U 81/18; Urteil vom 26.09.2019 – I-2 U 28/19 = GRUR-RS 2019, 33227 – MS-Therapie; Urteil vom 04.03.2021 – I-2 U 25/20 = GRUR-RS 2021, 4420 – Cinacalcet II).
  34. Grund, die Rechtsbestandsentscheidung in Zweifel zu ziehen und von einem Unterlassungsgebot abzusehen, besteht nur dann, wenn das Verletzungsgericht die Argumentation der Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz für nicht vertretbar hält oder wenn der mit dem Rechtsbehelf gegen die Einspruchs- oder Nichtigkeitsentscheidung unternommene Angriff auf das Verfügungspatent auf (z.B. neue) erfolgversprechende Gesichtspunkte gestützt wird, die die bisher mit der Sache befassten Stellen noch nicht berücksichtigt und beschieden haben (Senat, Urteil vom 06.12.2012 – I-2 U 46/12 = BeckRS 2013, 13744; Urteil vom 31.08.2017 – I-2 U 6/17 = BeckRS 2017, 125978; Urteil vom 14.12.2017 – I-2 U 17/17 = BeckRS 2017, 150889; Urteil vom 04.07.2019 – I-2 U 81/18; Urteil vom 26.09.2019 – I-2 U 28/19 = GRUR-RS 2019, 33227 – MS-Therapie). Demgegenüber ist es für den Regelfall nicht angängig, den Verfügungsantrag trotz erstinstanzlich aufrechterhaltenen Schutzrechts allein deshalb zurückzuweisen, weil das Verletzungsgericht seine eigene (laienhafte) Bewertung des technischen Sachverhaltes an die Stelle der Beurteilung durch die zuständige Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz setzt (Senat, Urteil vom 10.11.2011 – I-2 U 41/11; Urteil vom 18.12.2014 – I-2 U 60/14 = BeckRS 2015, 01829; Urteil vom 14.12.2017 – I-2 U 17/17 = BeckRS 2017, 150889; Urteil vom 04.07.2019 – I-2 U 81/18). Solches verbietet sich ganz besonders dann, wenn es sich um eine technisch komplexe Materie (z.B. aus dem Bereich der Chemie oder Elektronik) handelt, in Bezug auf die die Einsichten und Beurteilungsmöglichkeiten des technisch nicht vorgebildeten Verletzungsgerichts von vornherein limitiert sind. Geht es nicht darum, dass z.B. Passagen einer Entgegenhaltung von der Einspruchsabteilung übersehen und deshalb bei ihrer Entscheidungsfindung überhaupt nicht in Erwägung gezogen worden sind, sondern dreht sich der Streit der Parteien darum, welche technische Information einem im Bestandsverfahren gewürdigten Text aus fachmännischer Sicht zu entnehmen und welche Schlussfolgerungen der Durchschnittsfachmann hieraus aufgrund seines allgemeinen Wissens zu ziehen imstande gewesen ist, sind die Rechtsbestandsinstanzen aufgrund der technischen Vorbildung und der auf dem speziellen Fachgebiet erworbenen beruflichen Erfahrung ihrer Mitglieder eindeutig in der besseren Position, um hierüber ein Urteil abzugeben. Es ist daher prinzipiell ausgeschlossen, dass sich das Verletzungsgericht mit (notwendigerweise laienhaften) eigenen Erwägungen über das Votum der technischen Fachleute hinwegsetzt und eine Unterlassungsverfügung verweigert. Anderes kann sich im Einzelfall allenfalls daraus ergeben, dass die einstweilige Verfügung – über den Regelfall hinaus – ganz besonders einschneidende Konsequenzen für den Antragsgegner und/oder die Öffentlichkeit (z.B. für auf den Verletzungsgegenstand angewiesene Patienten) hat, die es im Rahmen der Interessenabwägung ausnahmsweise verbieten, bereits jetzt eine Unterlassungsanordnung zu verfügen, die im weiteren Rechtsbestandsverfahren mit einiger Aussicht auf Erfolg ihre Grundlage verlieren kann (Senat, Urteil vom 19.02.2016 – I-2 U 54/15 = BeckRS 2016, 06344; Urteil vom 04.07.2019 – I-2 U 81/18; Urteil vom 04.03.2021 – I-2 U 25/20 = GRUR-RS 2021, 4420 – Cinacalcet II).
  35. b)
    Hiervon ausgehend ist der Rechtsbestand des Verfügungspatents für den Erlass der einstweiligen Verfügung ausreichend gesichert, da es von der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts mit Entscheidung vom 07.07.2021 im Umfang des geltend gemachten Anspruchs 1 wie erteilt aufrechterhalten wurde.
  36. aa)
    Diese Entscheidung basiert auf einem intensiv geführten Einspruchsverfahren, in dem mehrere Einsprechende zahlreiche Einspruchsgründe vorgebracht haben, was eine intensive Überprüfung des Rechtsbestands belegt. Der Senat hat den Rechtsbestand des Verfügungspatents im Übrigen selbst in einem den Parteien bekannten Parallelverfahren auf Grundlage des bereits der Verfügungsklägerin günstigen Vorbescheids der Einspruchsabteilung als hinreichend gesichert erachtet (vgl. Urteil vom 04.03.2021 – I-2 U 25/20 = GRUR-RS 2021, 4420 – Cinacalcet II).
  37. bb)
    Angesichts des aktuellen, bereits weit fortgeschrittenen Standes des Verfügungsverfahrens, in dem die Schlussverhandlung des Senats ca. 1 Monat vor der Einspruchsverhandlung stattgefunden hat, ist es allein möglich, den Ausgang des Rechtsbestandsverfahrens vor dem Europäischen Patentamt abzuwarten. Demgegenüber können darüber hinaus weder – sei es durch eine Wiedereröffnung der Verhandlung, sei es durch eine maximal weiträumige Verlegung des Verkündungstermins – die schriftlichen Entscheidungsgründe der Einspruchsabteilung noch Stellungnahmen der Parteien zu eben diesen Gründen eingefangen werden, ohne gegen Grundregeln des einstweiligen Rechtsschutzes zu handeln. Erfahrungsgemäß nimmt das Absetzen der Begründung für die Rechtsbestandsentscheidung mehrere Wochen in Anspruch; anschließend würden auch die Parteien für ihre Stellungnahmen jeweils mehrere Wochen benötigen. Für den Streitfall heißt dies, dass die Entscheidung über das ansonsten entscheidungsreife Verfügungsbegehren, wenn der Senat die Einspruchsentscheidung einer eigenen sachlichen Überprüfung unterziehen wollte, um viele Monate hinausgezögert werden müsste, was dem Eilcharakter des vorläufigen Rechtsschutzes und der damit geschuldeten zeitnahen Erledigung des Verfügungsverfahrens widersprechen würde.
  38. Zwar kann das Verletzungsgericht in Fällen evidenter Unrichtigkeit ausnahmsweise von der Beurteilung der Einspruchs- oder Nichtigkeitsentscheidung abweichen, indem es – entgegen dem Votum der gesetzlich zuständigen Instanz – einen hinreichenden Rechtsbestand trotz erstinstanzlich erfolgten Patentwiderrufs bejaht oder einen solchen trotz erstinstanzlich erfolgter Aufrechterhaltung des Verfügungspatents verneint. Dies bedingt es jedoch nicht, dass den Parteien eines parallelen Verfügungsverfahrens – jenseits dessen, was der reguläre Verfahrensablauf an Möglichkeiten eröffnet – die Gelegenheit eingeräumt werden muss, zu der noch ausstehenden Begründung der (im Verkündungszeitpunkt lediglich dem Ergebnis nach bekannten) Rechtsbestandsentscheidung Stellung zu nehmen, um einen etwaigen Evidenzfall darlegen zu können. Ob ein solcher wenigstens ernstlich vorliegen kann, wird sich ohne Kenntnis der genauen Begründungserwägungen in aller Regel nicht absehen lassen. Das generelle Hinausschieben der Entscheidung im Verfügungsverfahren liefe deswegen auf einen Generalverdacht gegenüber den Rechtsbestandsinstanzen und der Verlässlichkeit ihrer technischen Beurteilung hinaus, der unangebracht ist. Besonders gilt dies in technisch komplexen Angelegenheiten, um die es sich auch im Streitfall handelt. Während die Rechtsbestandsinstanzen auf dem betroffenen, von ihnen bearbeiteten, eng begrenzten Technikgebiet typischerweise eine langjährige Erfahrung und Expertise in der – namentlich wertenden – Beurteilung der Widerrufs- oder Nichtigkeitsgründe besitzen, fehlen den Verletzungsgerichten Einblicke und Kenntnisse, die auch nur annähernd damit vergleichbar wären. Dass sich die getroffene Rechtsbestandsentscheidung aus der technischen Laiensicht des Verletzungsrichters als nicht nur evident falsch begründet erweist, sondern als im Ergebnis offensichtlich unzutreffend entschieden darstellt, wird daher zwar theoretisch denkbar sein, sich in der Praxis aber – von ganz speziell gelagerten, krassen Ausnahmefällen abgesehen – kaum feststellen lassen. In Anbetracht dieses forensischen Befundes würde das systemwidrige Abwarten der begründeten Rechtsbestandsentscheidung wegen einer letztlich bloß gedanklich in Betracht kommenden Möglichkeit einer für das Verletzungsgericht erkennbaren Fehlentscheidung sachlich unangemessene, weil das Rechtsverfolgungsinteresse des Verletzten generalisierend zurückstellende Schlüsse aus einem allenfalls singulär denkbaren Ausnahmesachverhalt ziehen. Für die Entscheidung über das Verfügungsbegehren muss vielmehr – allemal bei Erfindungen auf einem dem Verletzungsrichter nicht selbst zugänglichen technischen Gebiet (wie dem der Pharmazie) – die Tatsache genügen, dass die zuständige Fachinstanz in bestimmter – positiver oder negativer – Weise über das Verfügungspatent erkannt hat.
  39. Dadurch, dass sich das Verletzungsgericht für die Beurteilung des Rechtsbestandes an dem – in seiner Begründung noch unbekannten – Ausgang des Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens orientiert, ist für die Parteien des Verfügungsverfahrens kein unabwendbarer Rechtsnachteil verbunden. Sollte sich im Falle des Widerrufs des Verfügungspatents nach dem Vorliegen der Gründe herausstellen, dass es sich tatsächlich um eine evidente Fehlentscheidung handelt, liegt ein neuer Sachverhalt vor, der die Dringlichkeit begründet und für den im ersten Anlauf gescheiterten Verfügungskläger den Weg zu einem abermaligen Verfügungsantrag eröffnet. Im umgekehrten Fall, dass sich die Aufrechterhaltungsentscheidung nachträglich als evident unrichtig herausstellt, repräsentieren die Begründungserwägungen der Rechtsbestandsentscheidung einen (gegenüber den Verhältnissen bei Erlass oder Bestätigung der einstweiligen Verfügung in Kenntnis des Ergebnisses der Rechtsbestandsverhandlung) „veränderten Umstand“, der dem Verfügungsbeklagten den Weg zu einem Aufhebungsverfahren nach § 927 ZPO ebnet.
  40. 3.
    Der Erlass einer einstweiligen Verfügung ist entgegen der Auffassung des Landgerichts dringlich. Der Verfügungsklägerin kann nicht vorgeworfen werden, sie habe vorgerichtlich die Einreichung des Verfügungsantrages nicht mit der gebotenen Zielstrebigkeit und dem gebotenen Nachdruck verfolgt.
  41. a)
    Wer für sich und sein Anspruchsbegehren einen beschleunigten einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch nehmen will, der muss auch selbst bei der Vorbereitung des Verfahrens und der Beschaffung der Glaubhaftmachungsmittel die dem Eilcharakter des Verfahrens entsprechende Beschleunigung an den Tag legen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass er jede einzelne Maßnahme zur Sachverhaltsaufklärung, Glaubhaftmachung und Rechtsverfolgung mit der größtmöglichen Eile in Angriff nehmen und zu Ende führen muss; maßgeblich ist vielmehr, ob er bei der Verfolgung seiner Rechte stets in einer solchen Weise zielstrebig vorgegangen ist, dass es angemessen und gerechtfertigt erscheint, ihm mit Rücksicht auf sein eigenes Verhalten die Vorteile eines vorläufigen Rechtsschutzes zugutekommen zu lassen. Es entspricht von daher gefestigter Senatsrechtsprechung, dass der Patentinhaber das Gericht erst dann anzurufen braucht, wenn er a) verlässliche Kenntnis aller derjenigen Tatsachen hat, die eine Rechtsverfolgung im vorläufigen Rechtschutzverfahren erfolgversprechend machen, und wenn er b) die betreffenden Tatsachen in einer solchen Weise glaubhaft machen kann, dass ein Obsiegen sicher absehbar ist. Dabei braucht der Antragsteller bei der Rechtsverfolgung keinerlei Risiko einzugehen. Er darf sich auf jede mögliche prozessuale Situation, die nach Lage der Umstände eintreten kann, vorbereiten, so dass er – wie auch immer sich der Antragsgegner einlassen und verteidigen mag – darauf eingerichtet ist, erfolgreich zu erwidern und die nötigen Glaubhaftmachungs-mittel präsentieren zu können. Grundsätzlich kann der Antragsteller nicht darauf verwiesen werden, Nachermittlungen erforderlichenfalls erst während eines laufenden Prozesses anzustellen und Glaubhaftmachungsmittel nötigenfalls nachträglich zu beschaffen. Jede Maßnahme, die der Antragsteller zur Aufklärung und/oder zur Glaubhaftmachung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts unternimmt, hat dabei die tatsächliche Vermutung der Sinnhaftigkeit für sich, weswegen sie eine mangelnde Dringlichkeit grundsätzlich nicht begründen kann, selbst wenn sie sich im Nachhinein angesichts der (vor der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens für den Antragsteller noch nicht vorhersehbaren) Einlassung des Antragsgegners im einstweiligen Verfügungsverfahren als nicht erforderlich erweisen sollte. Anders zu behandeln sind allen-falls solche Maßnahmen, die ex-ante betrachtet selbst aus Gründen prozessualer Vor-sicht schlechterdings keinen Sinn ergeben, sondern ausschließlich unnütze Zeit bei der Rechtsverfolgung kosten. Sobald der Antragsteller den mutmaßlichen Verletzungssachverhalt kennt, muss er dem nachgehen, die notwendigen Aufklärungsmaßnahmen treffen und für deren Glaubhaftmachung sorgen. Auch hierbei darf er nicht dilatorisch agieren. Er hat vielmehr die erforderlichen Schritte jeweils zielstrebig in die Wege zu leiten und zum Abschluss bringen (Senat, GRUR-RR 2013, 236, 238 – Flupirtin-Maleat). Sobald der Antragsteller über alle Kenntnisse und Glaubhaftmachungsmittel verfügt, die verlässlich eine aussichtsreiche Rechtsverfolgung ermöglichen, muss er den Verfügungsantrag innerhalb eines Monats anbringen (Senat, Beschluss vom 15.02.2021 – I-2 W 3/21 = GRUR-RS 2021, 2572 – Cinacalcet I; Kühnen, Hdb. der Patentverletzung, 13. Aufl. 2021, Kap. G. Rn. 143).
  42. b)
    Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Landgericht das Vorliegen eines Verfügungsgrundes rechtsfehlerhaft verneint. Entscheidend ist nicht, ob für die Verfügungsklägerin die Möglichkeit bestanden hätte, einzelne Maßnahmen noch weiter zu beschleunigen. Die maßgebliche Frage bei der Dringlichkeit ist vielmehr, ob sich der Verletzte bei der Verfolgung seiner Ansprüche wegen Patentverletzung in einer solchen Weise nachlässig und zögerlich verhalten hat, dass aus objektiver Sicht der Schluss geboten ist, ihm sei an einer zügigen Durchsetzung seiner Rechte nicht gelegen, weswegen es auch nicht angemessen erscheint, ihm die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtschutzes zu gestatten (Senat, GRUR-RR 2013, 236, 238 – Flupirtin-Maleat; Beschluss vom 15.02.2021 – I-2 W 3/21 = GRUR-RS 2021, 2572 – Cinacalcet I). Dies ist hier nicht der Fall.
  43. aa)
    Der vorliegende Fall unterscheidet sich dadurch von anderen patentrechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahren im Pharmabereich, dass die Frage der Verletzung des Verfügungspatents nicht anhand der öffentlich zugänglichen Marktzulassung geklärt werden kann. Vielmehr waren der Erwerb und die Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform erforderlich.
  44. Bei der hiernach erforderlichen Beschaffung eines Musters der angegriffenen Ausführungsform und deren Übersendung an das US-Labor B (nachfolgend: B oder das US-Labor), das die Analyse zum Verletzungsnachweis vorgenommen hat, hat sich die Verfügungsklägerin nicht dringlichkeitsschädlich verhalten.
  45. (1)
    Soweit das Landgericht anführt, die Verfügungsklägerin habe bereits seit Februar 2020 Kenntnis von der Existenz der angegriffenen Ausführungsform gehabt, kommt es hierauf für die Frage der Dringlichkeit nicht an, da patentverletzende Handlungen weder bereits begangen waren noch so unmittelbar drohten, dass ein Unterlassungsanspruch gesichert unter dem Aspekt der Erstbegehungsgefahr geltend gemacht werden konnte.
  46. Obwohl die Verfügungsklägerin erst am 25.05.2020 Kenntnis von der Listung der angegriffenen Ausführungsform in der Lauer-Taxe ab dem 01.06.2020 hatte (vgl. eidesstattliche Versicherung Lois Kwasigroch, Anlagen rop31/31a), hat sie bereits am 24.04.2020 ein Muster der angegriffenen Ausführungsform in Finnland erworben. Dieses Muster konnte zum Verletzungsnachweis verwendet werden, da die angegriffene Ausführungsform in Deutschland und Finnland Gegenstand desselben europäischen Zulassungsverfahrens sind, weshalb das in Finnland vertriebene Generikum dieselbe Zusammensetzung aufweist wie die in Deutschland vertriebene angegriffene Ausführungsform. Die finnische Tochtergesellschaft der Verfügungsklägerin sandte das von ihr am 24.04.2020 erworbene Testmuster an die niederländische Tochtergesellschaft der Verfügungsklägerin, von der es an die niederländische Tochtergesellschaft von B weitergeleitet wurde. Die niederländische Tochtergesellschaft des US-Labors wiederum schickte das Muster an das US-Labor weiter, wo es am 22.05.2020 eintraf.

    Dieses Verhalten der Verfügungsklägerin bis zur Kenntnis der bevorstehenden Listung der angegriffenen Ausführungsform in der Lauer-Taxe am 25.05.2020 kann – anders als das Landgericht meint – der Dringlichkeit nicht entgegengehalten werden. Dies gilt unabhängig davon, dass die Verfügungsklägerin bereits vor der Listung mit dem Marktauftritt der angegriffenen Ausführungsform in Deutschland rechnete, weswegen sie das Muster in Finnland erwerben ließ (vgl. Anlagen rop31/31a). Diese Erwartung reicht nämlich – auch in Zusammenschau mit der bestehenden Marktzulassung der angegriffenen Ausführungsform – nicht aus, um eine Erstbegehungsgefahr für eine Patentverletzung hinreichend sicher zu begründen. Der Patentinhaber darf vor der Beantragung einer einstweiligen Verfügung solche Vorbereitungshandlungen des Verletzers abwarten, die bei objektiver Betrachtung sicher erscheinen lassen, dass das Gericht eine Erstbegehungsgefahr bejaht (Kühnen, Hdb. der Patentverletzung, 13. Aufl. 2021, Kap. G. Rn. 133). Eine hinreichende Erstbegehungsgefahr bestand erst ab der angekündigten Listung in der Lauer-Taxe am 25.05.2020, da hiermit deutlich wurde, dass ein Anbieten der angegriffenen Ausführungsform unmittelbar bevorstand.

  47. Ohne hinreichend sichere Erstbegehungsgefahr und damit ohne die Gewissheit, einen Unterlassungsanspruch erfolgreich durchsetzen zu können, trifft einen Patentinhaber keine Obliegenheit, einen möglicherweise überhaupt nicht zum Tragen kommenden einstweiligen Verfügungsantrag vorzubereiten und hierfür potenziell notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Wird die Markteinführung eines möglicherweise patentverletzenden Produkts einige Zeit vorher angekündigt und erfährt der Schutzrechtsinhaber davon, ist von ihm lediglich zu erwarten, dass er die verbleibende Zeit bis zur Markteinführung nutzt, um sich intern darüber klar zu werden, ob er einer möglichen Patentverletzung durch das angekündigte Produkt auf den Grund gehen will, und sodann alle Vorbereitungen trifft, so dass das mutmaßlich schutzrechtsverletzende Produkt sogleich bei einer Marktpräsenz erworben werden kann. Zu den gebotenen Vorbereitungsmaßnahmen gehört allerdings nur der rein interne Willensbildungsprozess, nicht aber darüber hinausgehend auch eine Musterbeschaffung (etwa im Ausland) und dessen (insbesondere kostspielige) Untersuchung auf eine Patentverletzung, deren Kosten gegebenenfalls gänzlich nutzlos aufgewendet wären, falls sich in der Folgezeit keine Erstbegehungsgefahr entwickelt. Ob und wann schon vor dem Vertriebsbeginn des Verletzungsprodukts eine Erstbegehungsgefahr besteht, ist eine Frage des Einzelfalls. Ein ernstzunehmendes Risiko zu unterliegen, muss der Schutzrechtsinhaber aber nicht eingehen, weswegen er solche Vorbereitungshandlungen des möglichen Patentverletzers abwarten darf, die bei objektiver Betrachtung sicher erwarten lassen, dass das angerufene Gericht eine wirklich zeitnah bevorstehende Verletzungshandlung (= Erstbegehungsgefahr) bejahen wird (Senat, Urteil vom 06.08.2017 – I-2 U 21/15; Kühnen, a.a.O., Kap. G. Rn. 133).
  48. Die Beschaffung eines Musters und dessen Übersendung zum US-Labor vor dem 25.05.2020 – also bevor eine Erstbegehungsgefahr für eine Patentverletzung bestand – stellen sich hiernach als überobligatorische Maßnahmen dar und können nicht gegen die Dringlichkeit angeführt werden.
  49. (2)
    Aber selbst wenn man das Verhalten der Verfügungsklägerin ab Erwerb des Musters in Finnland am 24.04.2020 in Betracht zieht, lässt sich kein zögerliches Verhalten der Verfügungsklägerin ersehen.
  50. Sie hat plausibel erläutert, weshalb sie sich für einen Versand des Musters über die Niederlande entschieden hat: Der Versand von Arzneimitteln in die Vereinigten Staaten von Amerika unterliegt nach US-Recht strengen Einfuhrbeschränkungen, weshalb die Verfügungsklägerin Proben generischer Cinacalcet-Produkte an das in Bezug auf US-Einfuhrbeschränkungen erfahrene niederländische Tochterunternehmen von B sendet, was die Ankunft der Proben in den USA sicher gewährleisten und insgesamt beschleunigen soll. Hierbei handelt es sich um eine absolut sinnvolle und nicht zu beanstandende verfahrenstaktische Entscheidung der Verfügungsklägerin.
  51. Die finnische Tochtergesellschaft der Verfügungsklägerin sandte das von ihr am 24.04.2020 erworbene Testmuster am 08.05.2020 an die niederländische Tochtergesellschaft der Verfügungsklägerin, wo es am 11.05.2020 einging und von der es am 12.05.2020 an die niederländische Tochtergesellschaft von B weitergeleitet wurde. Zwar hätte die Versendung von Finnland an die niederländische Tochter der Verfügungsklägerin ggf. durch eine Übersendung per Kurier oder Express-Versand um einige Tage beschleunigt werden können. Allerdings hat die Übersendung nur 3 Tage gedauert, so dass eine mögliche Zeitersparnis durch einen Kurierdienst allenfalls marginal wäre. Innerhalb der Niederlande ist das Muster innerhalb eines Tages nach Eintreffen bei der niederländischen Tochtergesellschaft der Verfügungsklägerin zur niederländischen Tochtergesellschaft des US-Labors gebracht worden. Die niederländische Tochtergesellschaft des US-Labors wiederum leitete das am 12.05.2020 erhaltene Muster am 15.05.2020 an das US-Labor weiter, wo es am 22.05.2020 eintraf. Auch hierin lässt sich keine dringlichkeitsschädliche Verzögerung erblicken. Vor dem Hintergrund der dargestellten Schwierigkeiten bei der Übersendung der angegriffenen Ausführungsform unmittelbar in die USA und dem daher nötigen Umweg über die niederländische Tochtergesellschafts des US-Labors lässt die Postlaufzeit nicht auf eine zögerliche Durchsetzung der Patentrechte schließen.
  52. Im Übrigen hätte eine schnellere Übersendung nicht zu früheren Untersuchungsergebnissen geführt. Wie die Verfügungsklägerin wissen musste, war vor Beginn der Untersuchungen der angegriffenen Ausführungsform im US-Labor zunächst der Abschluss der ebenfalls von ihr beauftragten Analyse anderer generischer Produkte abzuwarten.
  53. bb)
    Entgegen der Ansicht des Landgerichts lässt die Zeitdauer zwischen dem Eingang des Musters im US-Labor und dem Beginn der Untersuchungen nicht auf eine zögerliche Rechtsverfolgung der Verfügungsklägerin schließen. Als das Muster am 22.05.2020 im US-Labor eintraf, lief dort bis zum 23.06.2020 eine vorherige Testrunde (die sogenannte zweite Testrunde), in der Cinacalcet-Generika anderer Hersteller auf die Verletzung des Verfügungspatents hin untersucht wurden. Nach dem Ende der zweiten Testrunde begannen am 06.07.2020 die eigentlichen Analysen des Musters der angegriffenen Ausführungsform im Rahmen einer dritten Testrunde, in der auch weitere Cinacalcet-Generika untersucht wurden (vgl. Anlage rop 30/30a). Dieses Vorgehen steht der Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes nicht entgegen.
  54. (1)
    Die Beauftragung gerade von B hat die Verfügungsklägerin nachvollziehbar unter Verweis auf deren Renommee und Erfahrung auf dem maßgeblichen pharmazeutischen Gebiet begründet. Nicht zu beanstanden ist insbesondere die Erwägung, dass sie auf dieses Labor zurückgegriffen hat, weil es sich bei einer ersten Testrunde von generischen Cinacalcet-Produkten als sorgfältig und zuverlässig erwiesen hatte und entsprechend bei den Untersuchungen der angegriffenen Ausführungsform auf die gewonnene Expertise und ein spezifisch entwickeltes Prüfprotokoll zurückgreifen konnte.
  55. Der Verfügungsklägerin kann auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, sich wegen der Untersuchungen überhaupt an das US-Labor und keine andere schneller arbeitende Einrichtung gewandt zu haben. Da der Verfügungskläger für seine Rechtsverfolgung darauf angewiesen ist, dass das Verletzungsgericht dem eingeschalteten Labor und seiner technischen Expertise vertraut (und somit den Vorwurf der Patentverletzung als glaubhaft gemacht ansieht), ist es zunächst die alleinige Sache des Antragsstellers, welches aus seiner Sicht geeignete Labor er hinzuzieht. Unter Dringlichkeitsgesichtspunkten ändert sich an der Freiheit des Wahlrechts erst dann etwas, wenn absehbar ist, dass die erforderlichen Analyseergebnisse derart spät verfügbar sein werden, dass von einer Beauftragung vernünftigerweise abzusehen ist, wenn Interesse an einer zügigen Untersagung der Verletzungshandlungen besteht. Dabei mögen die Anforderungen im Falle einer Wiederholungsgefahr tendenziell etwas strenger sein als bei Vorliegen einer Erstbegehungsgefahr. Voraussetzung für den Vorwurf zögerlichen Verhaltens ist darüber hinaus in jedem Fall, dass dem Verfügungskläger überhaupt eine geeignete Alternative zur Verfügung steht, die zügigere Erkenntnisse erwarten lässt, d.h. ein anderes Labor mit hinreichender Expertise das nennenswert zeitigere, verlässliche Resultate liefern wird. Vorliegend legt die Verfügungsbeklagte nicht einmal ausreichend dar, dass ein anderes Labor aus der ex ante Sicht tatsächlich entscheidend schneller und gleich zuverlässig gewesen wäre, insbesondere, wenn es – wie B – mehrere Cinacalcet-Produkte überprüft hätte. Die Verfügungsklägerin hat im Übrigen plausibel dargelegt, warum 2019 B aus fünf angefragten Laboren ausgewählt wurde (vgl. die eidesstattliche Versicherung von Rechtsanwalt Dr. C, Anlagen rop 32/32a). Ihr kann also nicht vorgeworfen werden, ein beliebiges oder vorhersehbar langsam arbeitendes Institut ausgewählt zu haben.
  56. (2)
    Die Verfügungsklägerin musste neben B kein zweites Labor beauftragen, um die Untersuchung der verschiedenen Cinacalcet-Generika aufzuteilen und so schneller durchführen zu lassen. Selbst wenn dies möglich gewesen wäre und zu einer gewissen Beschleunigung der Analysen der angegriffenen Ausführungsform geführt hätte, schadet das Verhalten der Verfügungsklägerin der Dringlichkeit nicht, da sie für die Beauftragung ausschließlich von B tragfähige Erwägungen aufgezeigt hat. So ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Einschaltung mehrerer Labore einen erhöhten Koordinierungsaufwand geschaffen hätte, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten.
  57. Dass die Untersuchungen von B zu langsam durchgeführt wurden, ist nicht ersichtlich; erst recht nicht, dass Derartiges aus der maßgeblichen ex ante-Sicht für die Verfügungsklägerin erkennbar war. Die Verfügungsklägerin hat den beträchtlichen Umfang der erforderlichen Untersuchungen glaubhaft gemacht (vgl. Anlagen rop 30/30a). Die Untersuchungen wurden von B zudem in einem Zeitrahmen durchgeführt, der deutlich unterhalb dessen liegt, was andere Labore auf Anfrage von Prof. „G“ für die Untersuchung von Cinacalcet-Produkten in Aussicht gestellt haben (vgl. Anlage rop 36). Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Untersuchungen unterbrochen oder anderweitig verzögert durchgeführt worden sind.
  58. (3)
    Auch hinsichtlich der vom Patentinhaber gewählten Untersuchungsmethode gilt die tatsächliche Vermutung der Sinnhaftigkeit. Entsprechend stellt es die Dringlichkeit des Vorgehens der Verfügungsklägerin nicht in Frage, wenn die Verfügungsbeklagte auf die von Prof. „E“ beschriebene Methode der quantitativen Analyse mit Hilfe von Nah-Infrarot (NIR) spektroskopischer Analyse in Kombination mit einem chemometrischen Auswerteverfahren verweist (vgl. Anlage B5). Es ist bereits nicht ersichtlich, dass diese Methode zu ausreichend genauen Ergebnissen führt. So geht Prof. „E“ selbst von einem Vorhersagefehler im Bereich von 0,5 – 1,5 Gewichtsprozent aus (Ziffer 3.8 Anlage B5). Ob es auf solche Ungenauigkeiten für die Verletzung des Verfügungspatents ankommen würde, konnte die Verfügungsklägerin bei der Beauftragung der Untersuchungen nicht wissen. Auf irgendein Risiko bei der Rechtsdurchsetzung musste sich die Verfügungsklägerin nicht einlassen, sondern durfte auch hinsichtlich der Analysetechnik den sichersten Weg wählen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es sich bei der beschriebenen Methodik um ein Standardverfahren handelt; das Angebot von D (Anlage B6) beruhte vielmehr auf den Vorgaben von Prof. „E“. Schließlich hätten die von Prof. „E“ beschriebenen Untersuchungen nicht die Verwirklichung von parallelen Schutzrechten der Verfügungsklägerin nachweisen können.
  59. (4)
    Der Dringlichkeit lässt sich weder entgegen halten, dass die Verfügungsklägerin bei der Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform zugleich andere Generika-Produkte untersucht hat und die Analysen nicht auf die Verletzung des Verfügungspatents beschränkt hat, noch, dass sie das Ende der zweiten Testrunde abgewartet hat.
  60. (a)
    Grundsätzlich schadet es der Dringlichkeit nicht, wenn die zur Feststellung des Verletzungssachverhaltes notwendigen Untersuchungen nicht auf eine Ausführungsform oder auf ein Verfügungsschutzrecht konzentriert werden. Es steht einem Patentinhaber im Rahmen des einstweiligen Rechtschutzes frei, alle notwendigen Analysen vorzunehmen, die für die zeitnahe Durchsetzung seiner Patente – nicht nur des jeweiligen Verfügungspatents – gegen alle verfügbaren Verletzungsformen erforderlich sind. Einem Patentinhaber, der versucht, alle seine Schutzrechte möglichst umfassend zügig durchzusetzen, kann aufgrund eines solchen Verhaltens keine zögerliche Rechtsdurchsetzung vorgeworfen werden.
  61. Vielmehr obliegt es einem Patentinhaber sogar, bei einer ihm vorliegenden angegriffenen Ausführungsform diese hinsichtlich seines gesamten Schutzrechtsbestandes auf Verletzungen hin zu überprüfen, da andernfalls die Dringlichkeit für die Geltendmachung der trotz Zumutbarkeit der Untersuchung nicht auf ihre Verletzung hin überprüften Schutzrechte verloren geht (vgl. Senat, Urteil vom 27.05.2021 – I-2 U 2/21; Senat, GRUR 2017, 1107 Rn. 31 f. – Östrogenblocker; Kühnen, a.a.O., Kap. G. Rn. 170 f.). Wenn dem Patentinhaber aber eine zeitnahe Überprüfung der Verletzung aller in Betracht kommenden Schutzrechte obliegt, kann ihm das betreffende Verhalten nicht als dringlichkeitsschädlich angelastet werden, auch wenn es mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Überprüfung der Verletzung nur eines Schutzrechts (vgl. BeckOK PatR/Voß, 20. Ed. 15.04.2021, Vor §§ 139 – 142b Rn. 287).
  62. Entsprechendes gilt für die Durchsetzung von Patentrechten im Hinblick auf mehrere Verletzungsformen. Ein Patentinhaber darf gegen alle Verletzungsformen mit einstweiligen Verfügungsanträgen vorgehen, ohne zwischen diesen eine Auswahl treffen zu müssen. Verzögerungen, die durch das Vorgehen aus demselben Patent gegen andere Verletzungsformen entstehen, lassen grundsätzlich nicht den Schluss zu, der Patentinhaber habe es mit der Durchsetzung seines Patents nicht eilig. Die einzelnen Patentverletzer haben kein schützenswertes Interesse, innerhalb einer bestimmten Zeit mit einer einstweiligen Verfügung in Anspruch genommen zu werden. Deshalb kommt es für die Frage der Dringlichkeit allein darauf an, ob das Verhalten des Patentinhabers den Schluss rechtfertigt, er habe ein Interesse an der zügigen Durchsetzung seines Schutzrechts durch sein eigenes Verhalten widerlegt. Eine solche Selbstwiderlegung kann aber nicht darin liegen, dass der Patentinhaber gegen mehrere Verletzungsformen vorgehen will – es zeigt im Gegenteil sein Interesse an der Durchsetzung des betreffenden Schutzrechts. Keinesfalls muss der Patentinhaber daher die Untersuchung einer Verletzungsform zurückstellen und so die Dringlichkeit bei dem Vorgehen gegen diese Verletzungsform riskieren, nur um die Untersuchung eines anderen Produkts zu beschleunigen.
  63. (b)
    Hiernach durfte die Verfügungsklägerin das Ende der zweiten Testrunde des US-Labors abwarten und musste die Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform nicht gegenüber anderen generischen Cinacalcet-Produkten priorisieren, etwa indem sie die zweite Testrunde ab- oder unterbrechen ließ. Ein solches Vorgehen hätte der Dringlichkeit des Vorgehens gegen die in der zweiten Testrunde untersuchten Produkte entgegengehalten werden können.
  64. Auch dass die Verfügungsklägerin zeitgleich mit dem Muster der angegriffenen Ausführungsform Produkte Dritter im Rahmen einer Testrunde untersuchen ließ, schadet der Dringlichkeit nicht. Das gilt vorliegend schon deshalb, weil es dadurch nicht zu nennenswerten Verzögerungen kam und für eine zeitgleiche Untersuchung von Mustern verschiedener Hersteller sachliche Gründe vorlagen. So erscheint es schon aus verfahrensökonomischen Gründen nachvollziehbar und sinnvoll, verschiedene, zeitgleich bei dem US-Labor eingetroffene generische Cinacalcet-Produkte im Interesse einer Zeitersparnis in einer Testrunde zusammen mit dem streitgegenständlichen Muster auf eine mögliche Verletzung des Verfügungspatents zu testen, um beim Vorliegen einer Verletzung zugleich auch gegen diese Produkte vorgehen zu können. Die Verfügungsklägerin hat insbesondere glaubhaft gemacht, dass die Zusammenfassung mehrerer generischer Produkte zu Testrunden und die Methode-für-Methode-Testung effizienter war als Untersuchungen Produkt-für-Produkt, und somit für die Überprüfung aller generischer Produkte deutlich weniger Zeit gebraucht wurde (vgl. die eidesstattliche Versicherung von Dr. C, Anlagen rop 32/32a Ziffer 17 f.). Dies zeigt sich auch darin, dass die Untersuchungen der zweiten und dritten Testrunde ähnlich lange benötigten wie die der ersten Testrunde, obwohl hierin nur ein Produkt untersucht wurde, während in der zweiten und dritten Testrunde drei bzw. vier Produkte analysiert wurden (vgl. die eidesstattliche Versicherung von Frau „F“, Anlagen rop 30/30a).
  65. Schließlich durfte die Verfügungsklägerin nach den oben dargestellten Grundsätzen auch ohne Gefährdung der Dringlichkeit die Untersuchungen der angegriffenen Ausführungsform im Rahmen der Testrunde auf die Verletzung von weiteren Patenten aus der Patentfamilie des Verfügungspatents (vgl. Anlagen rop 48, rop 49, rop 50) erstrecken, die ebenfalls Formulierungen von Cinacalcet-Hydrochlorid beanspruchen.
  66. (5)
    Ein zögerliches Verhalten ist der Verfügungsklägerin auch nicht deswegen vorzuwerfen, weil nach dem Ende der zweiten Testrunde (23.06.2020) noch zwei Wochen vergingen, bis am 06.07.2020 die eigentlichen Untersuchungen der angegriffenen Ausführungsform begannen. Es erscheint sachgerecht, dass die Verfügungsklägerin zunächst die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungen abgewartet hat, bevor sie die Analyse der angegriffenen Ausführungsform im Rahmen einer weiteren Testrunde in Auftrag gab. Dies gilt insbesondere aufgrund der hohen Kosten der Testung von USD 130.000,00 bis USD 160.000,00 pro Produkt (vgl. die eidesstattliche Versicherung von Frau „F“, Anlagen rop 30/30a) und mit Rücksicht auf den Umstand, dass jeweils mehrere Produkte gemeinsam analysiert werden sollten, weshalb – nachvollziehbar – ein internes Genehmigungsverfahren durchgeführt werden musste. Es liegt auf der Hand, dass die Verursachung solcher Kosten innerhalb großer Unternehmen abgestimmt werden muss. Auch bedurfte die Koordination und Erstellung eines entsprechenden Änderungsauftrags seitens des US-Labors und dessen Unterzeichnung durch die Verfügungsklägerin verständlicherweise eine gewisse Zeit (vgl. eidesstattliche Versicherung von Dr. C, Anlagen rop 57/57a). Insgesamt lässt die Dauer von zwei Wochen von dem Ende der zweiten Testrunde bis zum Beginn der dritten Testrunde keinen Rückschluss auf ein mit der Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz nicht mehr vereinbares Zögern zu.
  67. Soweit die Verfügungsbeklagte vorträgt, tatsächlich hätte die dritte Testrunde bereits vor Ende der zweiten Testrunde begonnen werden können, da am Ende der zweiten Testrunde nur die Ergebnisse zusammengefasst worden sind und die Laborinstrumente deshalb zur Verfügung standen, greift dies nicht durch. Die Verfügungsklägerin durfte die Ergebnisse der zweiten Testrunde abwarten und erst auf Grundlage dieser Erkenntnisse die dritte Testrunde – mit der angegriffenen Ausführungsform – beauftragen.
  68. Zum Nachweis der Dringlichkeit muss die Verfügungsklägerin auch nicht jeden einzelnen Schritt des US-Labors und dessen Zeitbedarf darlegen. Sie hat den Beginn der Untersuchungen, die durchzuführenden Untersuchungen und den Erhalt der Ergebnisse glaubhaft gemacht, die angemessen erscheinen. Mehr ist nicht erforderlich; insbesondere bedurfte es nicht der Vorlage des Testberichts des US-Labors.
  69. cc)
    Das Verhalten der Antragstellerin nach Eingang der Testergebnisse am 07.08.2020 bietet ebenfalls keinen Anlass, die zeitliche Dringlichkeit für die Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes in Frage zu stellen. Die Beantragung der einstweiligen Verfügung am 07.09.2020 kann nicht als Ausdruck zögerlicher Rechtsdurchsetzung gewertet werden.
  70. (1)
    Zwischen dem Vorliegen der Ergebnisse und dem Einreichen des Verfügungsantrages lag ein Monat, was für die Dringlichkeit unschädlich ist (Senat, Beschluss vom 15.02.2021 – I-2 W 3/21 = GRUR-RS 2021, 2572 – Cinacalcet I; Kühnen, Hdb. der Patentverletzung, 13. Aufl. 2021, Kap. G. Rn. 143).
  71. (2)
    Abgesehen davon sind auch im konkreten Einzelfall keine Anhaltspunkte ersichtlich, welche den Schluss auf ein zögerliches, der Verfügungsklägerin den Weg zum Eilrechtsschutz verschließendes Verhalten zulassen. Die Verfügungsklägerin hat den besagten Monat nicht tatenlos verstreichen lassen. Im Gegenteil bestand aufgrund von Parallelverfahren ein erhöhter Abstimmungs- und Vorbereitungsbedarf. Die notwendige Koordinierung beim Vorgehen gegen diverse Verletzungsformen, aus verschiedenen Schutzrechten in mehreren Ländern erlaubt als solche nicht den Schluss auf ein zögerliches Vorgehen.
  72. Die Verfügungsklägerin hat unwidersprochen vorgetragen, dass allein im Inland mittlerweile von 15 Generika-Unternehmen Cinacalcet-Präparate in der Lauer-Taxe gelistet sind, gegen die sie vorgeht oder dies plant, was jedenfalls für einige der genannten Verfahren dem Senat aus eigener Anschauung bekannt ist. Auch ist die Untersuchung von acht verschiedenen generischen Cinacalcet-Präparaten glaubhaft gemacht (vgl. Anlagen rop 30/30a). Die Verfügungsklägerin hat ferner dargelegt, dass es sich bei dem vorliegenden Verfahren um einen Bestandteil eines umfassenden, länderübergreifenden Vorgehens gegen eine Vielzahl verschiedener Generika-Unternehmen handelt. Parallel dazu laufen Einspruchsverfahren gegen das Verfügungspatent sowie zahlreiche Parallelpatente. Zugleich geht die Verfügungsklägerin unter anderem in den Niederlanden, in Italien und in Spanien aus den jeweiligen nationalen Teilen der Formulierungspatente gegen generische Cinacalcet-Produkte vor. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Vorgehen einer europaweit kohärenten, auch die Unterschiede einzelner Jurisdiktionen in den Blick nehmenden Durchsetzungs- und Rechtsbestandsstrategie bedarf. Hierfür müssen sämtliche Schriftsätze zwischen der Rechtsabteilung der in den USA ansässigen Verfügungsklägerin und den unmittelbar beteiligten und mittelbar betroffenen Rechts- und Patentanwälten abgestimmt und ggf. auch übersetzt werden. Dass es hierfür einer gewissen Zeit bedarf, ist offensichtlich.
  73. Schließlich mag es sein, dass der Verfügungsklägerin aus einem parallelen Verfügungsverfahren (Az. 4c O 25/20 = I-2 U 25/20) bereits ein taugliches Vorstück für einen Verfügungsantrag vorlag, von dem weitgehend Gebrauch gemacht wurde. Gleichwohl waren die Besonderheiten des Falls – etwa der Ablauf vom Erwerb des Musters bis zum Vorliegen der Testergebnisse – anzupassen und durch eidesstattliche Versicherungen glaubhaft zu machen. Das Vorliegen eines Vorstücks kann im Übrigen vom Grundsatz her nicht zu einer Verkürzung des angesprochenen Vorbereitungsmonats führen.
  74. dd)
    Das prozessuale Verhalten der Verfügungsklägerin lässt ebenfalls nicht den Schluss einer zögerlichen Rechtsdurchsetzung zu. Zwar schadet es der Dringlichkeit, wenn sich der in erster Instanz erfolglose Patentinhaber die Berufungsbegründungsfrist wesentlich verlängern lässt und die so verlängerte Frist auch ausschöpft (Senat, InstGE 10, 60 – Olanzapin II). Derartiges ist hier aber nicht ersichtlich; die Berufungsbegründung wurde vielmehr vor dem Ablauf von zwei Monaten nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils eingereicht.
  75. ee)
    Schließlich lässt sich eine fehlende Dringlichkeit auch nicht mit der zwischen der Kenntnis der Listung in der Lauer-Taxe und dem Verfügungsantrag liegenden Gesamtzeit von ungefähr 3,5 Monaten begründen. Wie ausgeführt, ist nicht die größtmögliche Schnelligkeit entscheidend. Der Antragsteller muss vielmehr seine Rechtsverfolgung in einer Weise vorantreiben, welche die Ernsthaftigkeit seines Bemühens erkennen lässt und die es deswegen rechtfertigt, ihm Zugang zum einstweiligen Rechtschutz zu gewähren (Senat, GRUR-RR 2013, 236 – Flupirtin-Maleat; Kühnen, a.a.O., Kap. G. Rn. 131). Diesen Anforderungen ist die Verfügungsklägerin gerecht geworden. Sie hat das Testmuster bereits im April 2020 – also vor der Listung der angegriffenen Ausführungsform in der Lauer-Taxe – erworben und dieses ohne relevante Verzögerungen untersuchen lassen. Sobald die für ein gerichtliches Vorgehen erforderlichen Testergebnisse vorlagen, hat sie innerhalb eines Monats einen Verfügungsantrag gestellt und darüber hinaus nachvollziehbar erläutert, weshalb es der zwischen dem Vorliegen der Testergebnisse und dem Verfügungsantrag vergangenen Zeit bedurfte. Die Verfügungsklägerin hat sich bei der Verfolgung ihrer Ansprüche wegen Patentverletzung weder nachlässig noch zögerlich verhalten, sondern diejenige Vorsicht walten lassen, die angesichts der Bedeutung des Verletzungssachverhaltes und dessen Komplexität (Rechtsverfolgung gegen diverse Verletzer in mehreren Ländern aus verschiedenen Schutzrechten) sinnvoll und geboten gewesen ist.
  76. 4.
    Infolge des unstreitigen Verfügungsanspruchs und des glaubhaft gemachten Verfügungsgrunds fällt die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung vorzunehmende Interessensabwägung zugunsten der Verfügungsklägerin aus. Die schutzwürdigen Marktaussichten des von der Verfügungsklägerin – bzw. ihrer deutschen Tochtergesellschaft – vertriebenen Originalpräparats sind günstiger, wenn die (generische) angegriffene Ausführungsform vom Markt genommen werden muss. Dass nicht die Verfügungsklägerin selbst, sondern deren deutsche Tochtergesellschaft das Originalpräparat in Deutschland vertreibt, spielt in diesem Zusammenhang wegen der Konzernverbundenheit beider Unternehmen keine Rolle.
  77. Weiterhin kommt es aufgrund des durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents nicht entscheidend darauf an, dass es sich bei der angegriffenen Ausführungsform um ein Generikum handelt, da auch ohne Berücksichtigung der hiermit verbundenen Besonderheiten eine einstweilige Verfügung zu erlassen ist. Aus diesem Grund ist ebenfalls schon im Ansatz unerheblich, ob die Verfügungsklägerin den Markt vollständig von generischen Cinacalcet-Produkten bereinigen kann oder ob sie das Verfügungspatent nur gegen bestimmte Generika-Anbieter selektiv durchsetzt.
  78. III.
  79. Der Verfügungsbeklagten war keine Schriftsatzfrist zur Stellungnahme zur eidesstattlichen Versicherung von Frau „F“ in Anlage rop 58 einzuräumen. Unabhängig von der Frage, ob im einstweiligen Verfügungsverfahren überhaupt eine Schriftsatzfrist nach § 283 ZPO eingeräumt werden kann (dagegen: OLG Hamm, GRUR 1989, 931 – Vollziehungsfrist; OLG München, GRUR 1979, 172 – Kinderwochen; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 922 Rn. 21; a.A. OLG Koblenz, GRUR 1987, 319 – Verspätetes Vorbringen) hat die Verfügungsbeklagte den Antrag auf Schriftsatznachlass unter der Bedingung gestellt, dass der Senat diese eidesstattliche Versicherung verwerten will. Dies ist nicht der Fall, da es auf die in Anlage rop 58 glaubhaft gemachten Umstände nicht entscheidend ankam.
  80. Aus den oben dargelegten Gründen war der Verfügungsbeklagten auch nicht die Möglichkeit zu gewähren, schriftsätzlich zu der Entscheidung der Einspruchsabteilung vorzutragen.
  81. IV.
  82. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
  83. Eines Ausspruches zur vorläufigen Vollstreckbarkeit bedurfte es nicht, weil das vorliegende Urteil als zweitinstanzliche Entscheidung im Verfahren der einstweiligen Verfügung keinem Rechtsmittel mehr unterliegt (§ 542 Abs. 2 S. 1 ZPO) und ohne besonderen Ausspruch endgültig vollstreckbar ist.
  84. Der Senat hat die Vollziehung der einstweiligen Verfügung nach §§ 925, 936 ZPO davon abhängig gemacht, dass die Verfügungsklägerin zuvor eine Sicherheitsleistung erbringt, die sich aus § 945 ZPO ergebende Schadenersatzansprüche der Verfügungsbeklagten absichert. Da wegen der eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten im Eilverfahren nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die einstweilige Verfügung im Hauptsacheverfahren als ungerechtfertigt erweist und die Verfügungsklägerin der Verfügungsbeklagten nach § 945 ZPO Schadenersatz leisten muss, kann die Vollziehung einer Unterlassungsverfügung wegen Patentverletzung keinen geringeren Anforderungen unterliegen als die Vollstreckung eines erstinstanzlichen Unterlassungsurteils.
  85. Die Sicherheitsleistung hat der Senat auf eine Höhe von EUR 1 Mio. festgesetzt. Dem Antrag der Verfügungsbeklagten, einen Betrag in Höhe von EUR 3 Mio. vorzusehen, war nicht zu folgen. Die Sicherheitsleistung für die Vollstreckung eines (Hauptsache-) Urteils orientiert sich am festgesetzten Streitwert, da die Vollstreckungsschäden in aller Regel in etwa dem Streitwert entsprechen (OLG Düsseldorf, NJOZ 2007, 451, 55; Kühnen, a.a.O., Kap. H. Rn. 12). Dies gilt entsprechend für die Höhe der Sicherheit zur Vollziehung einer einstweiligen Verfügung (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 26.09.2019 – I-2 U 28/19 = GRUR-RS 2019, 33227 – MS-Therapie). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass im vorliegenden Fall die der Verfügungsbeklagten aus der Vollziehung der einstweiligen Verfügung drohenden Schäden signifikant größer sind als derjenige Betrag, der dem objektiven Rechtsverfolgungsinteresse der Verfügungsklägerin entspricht.

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