4a O 57/20 – Absorbierender Artikel

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3217

Landgericht Düsseldorf

Urteil vom 12. Mai 2022, Az. 4a O 57/20

  1. I. Die Klage wird abgewiesen.
  2. II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
  3. III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags.
  4. Tatbestand
  5. Die Klägerin nimmt die Beklagten aus dem deutschen Teil des europäischen Patents EP 3 XXX 368 (nachfolgend: Klagepatent, vorgelegt mit Übersetzung in Anlagen MB 7 / MB 7a) wegen behaupteter unmittelbarer wortsinngemäßer, hilfsweise äquivalenter, Patentverletzung auf Unterlassung, Feststellung der Verpflichtung zum Leisten von Schadensersatz, Auskunft und Rechnungslegung sowie auf Vernichtung und Rückruf klagepatentgemäßer Erzeugnisse in Anspruch.
  6. Die Klägerin ist die im Register des Deutschen Patent- und Markenamts (vgl. den Registerauszug in Anlage MB 8) eingetragene Inhaberin des Klagepatents mit dem Titel „Saugfähiger Artikel mit Kanälen und Verfahren zur Herstellung davon“. Das in englischer Verfahrenssprache erteilte Klagepatent wurde am 11.10.2017 unter Inanspruchnahme der Prioritätsdaten 11.09.2017 der EP XXX und 09.10.2017 der EP XXX angemeldet. Das Europäische Patentamt veröffentlichte am 11.09.2019 den Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents.
  7. Das Klagepatent steht in Kraft. Auf einen Einspruch der A hielt die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts mit Entscheidung vom 15.02.2022 das Klagepatent in einer aus dem Anlagenkonvolut MB 36 ersichtlichen Fassung (deutsche Übersetzung in Anlage MB 36a) beschränkt aufrecht. Nach Angabe der Beklagten beabsichtigt die Einsprechende, hiergegen Beschwerde einzulegen.
  8. Der geltend gemachte Patentanspruch 1 lautet in der englischen Verfahrenssprache des Klagepatents in der erteilten Fassung wie folgt:
  9. „An absorbent article (100) comprising
    a liquid pervious topsheet,
    a liquid impervious backsheet, and
    an absorbent core (130) comprising an absorbent material between a top core wrap sheet (110) and a back core wrap sheet (120),
    said absorbent core being positioned in between said topsheet and said backsheet, wherein the absorbent core is provided with at least one attachment zone (140, 150) between the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120),
    wherein a first binder is arranged in a first area between the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120) at a distance from the at least one attachment zone (140, 150), on one of the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120); and a second binder is arranged in a second area between the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120), on the other of the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120), wherein the first area is substantially complementary to the second area.
  10. In der eingetragenen deutschen Übersetzung lautet der erteilte Anspruch 1 des Klagepatents wie folgt:
  11. „Adsorbierender Artikel(100), der aufweist
  12. eine flüssigkeitsdurchlässige Decklage,
    ein flüssigkeitsundurchlässige Bodenlage, und
    einen adsorbierenden Kern (130), der ein adsorbierendes Material zwischen einer Umhüllungslage des oberen Kerns (110) und einer Umhüllungslage des unteren Kerns (120) aufweist,
    wobei der adsorbierende Kern zwischen der Decklage und der Bodenlage angeordnet ist, wobei der adsorbierende Kern mit wenigstens einer Anbringungszone (140, 150) zwischen der Umhüllungslage des oberen Kerns (110) und der Umhüllungslage des unteren Kerns (120) vorgesehen ist,
    wobei ein erstes Bindemittel in einem ersten Gebiet zwischen der Umhüllungslage des oberen Kerns (110) und der Umhüllungslage des unteren Kerns (120) an einem Abstand von der wenigstens einen Anbringungszone (140, 150) an einer von der Umhüllungslage (110) des oberen Kerns und der Umhüllungslage des unteren Kerns (120) angeordnet ist; und ein zweites Bindemittel in einem zweiten Gebiet zwischen der Umhüllungslage (110) des oberen Kerns und der Umhüllungslage des unteren Kerns (120) an der anderen von der Umhüllungslage (110) des oberen Kerns und der Umhüllungslage des unteren Kerns (120) angeordnet ist, wobei das erste Gebiet zum zweiten Gebiet im Wesentlichen komplementär ist.“
  13. In der von der Einspruchsabteilung aufrecht erhaltenen und von der Klägerin nunmehr geltend gemachten Fassung lautet Anspruch 1 wie folgt:
  14. „An absorbent article (100) comprising a liquid pervious topsheet, a liquid impervious backsheet, and an absorbent core (130) comprising an absorbent material between a top core wrap sheet (110) and a back core wrap sheet (120), said absorbent core being positioned in between said topsheet and said backsheet, wherein the absorbent core is provided with attachment zones (140, 150) between the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120), wherein a first binder is arranged in a first area between the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120) at a distance from the attachment zones (140, 150), on one of the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120) only in a plurality of longitudinal, substantially parallel stripes which do not overlap with the attachment zones; and a 15 second binder is arranged in a second area along a plurality of longitudinal, substantially parallel stripes between the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120), on the other of the top core wrap sheet (110) and the back core wrap sheet (120), wherein the first area is substantially complementary to the second area, wherein the second area includes the attachment zones.“
  15. In deutscher Übersetzung lautet die aufrechterhaltene Fassung von Anspruch 1:
  16. „Absorbierender Artikel (100), der aufweist eine flüssigkeitsdurchlässige Oberschicht, eine flüssigkeitsundurchlässige Unterschicht, und einen absorbierenden Kern (130) mit einem absorbierenden Material zwischen einer oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und einer unteren den Kern
    einhüllenden Schicht (120) umfasst, wobei der absorbierende Kern zwischen der Oberschicht und der Unterschicht positioniert ist, wobei der absorbierende Kern mit Befestigungszonen (140, 150) zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern einhüllenden Schicht (120) versehen ist,
    wobei ein erstes Bindemittel in einem ersten Bereich zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern einhüllenden Schicht (120) in einem Abstand von den Befestigungszonen (140, 150), auf einer von der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern einhüllenden Schicht (120) nur in einer Vielzahl von longitudinalen, im Wesentlichen parallelen Streifen, die nicht mit den Befestigungszonen überlappen, angeordnet ist;
  17. und wobei ein zweites Bindemittel in einem zweiten Bereich entlang einer Vielzahl von longitudinalen, im Wesentlichen parallelen Streifen zwischen der
    der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern
    einhüllenden Schicht (120), auf der anderen von der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern einhüllenden Schicht
    (120) angeordnet ist, wobei der erste Bereich zum zweiten Bereich im Wesentlichen komplementär ist wobei der zweite Bereich die Befestigungszonen beinhaltet.“
  18. Zur Veranschaulichung der beanspruchten Lehre wird nachfolgend Figur 1C des Klagepatents eingeblendet, die nach Abs. [0089] der Klagepatentbeschreibung einen Querschnitt durch eine beispielhafte Ausführungsform einer Windel zeigt:
  19. Die nachfolgend verkleinert eingeblendeten Figuren 10A-C zeigen nach der Patentbeschreibung schematisch eine beispielhafte Ausführungsform eines Verfahrens und einer Vorrichtung zur Herstellung eines absorbierenden Artikels. Dabei zeigt Figur 10A ein Auftragen von Klebstoff an der unteren Kernumhüllung und Figur 10B ein Auftragen von Klebstoff an der oberen Kernumhüllung. Figur 10C stellt schließlich die kombinierten unteren und oberen Kernumhüllungen dar:
  20. Die Parteien sind Wettbewerber auf dem Gebiet der Körperhygiene, das Produkte von der Baby- bis zur Seniorenhygiene umfasst. Die Beklagten vertreiben in Deutschland Baby- und Kleinkindwindeln als OEM-Produkte, die von der Beklagten zu 1) hergestellt werden. Diese Produkte werden von Einzelhandelsmarken wie A an Endkunden vertrieben. Die Beklagte zu 2) ist innerhalb der B-Gruppe für Vertriebsaktivitäten unter anderem in Deutschland zuständig.
  21. Mit der Klage greift die Klägerin Kinder-Hygieneartikel des Typs „A XXX“ in den Größen XXX, bei C unter der Bezeichnung „D“ und alle weiteren, in den technischen relevanten Merkmalen identischen Windeln der Beklagten an (nachfolgend: angegriffene Ausführungsformen). Nachfolgend wird ein Bild der Verpackung einer angegriffenen Ausführungsform des Typs „A XXX“ von S. 23 (= Bl. 23 GA) der Klageschrift verkleinert eingeblendet:
  22. Bei den angegriffenen Ausführungsformen wird im Rahmen der Herstellung auf die obere und die untere den Kern umhüllende Schicht (…) jeweils Klebstoff aufgetragen. Der Klebstoffauftrag lässt sich aus der folgenden Abbildung des Klebemusters ersehen (S. 15 der Triplik = Bl. 408 GA entnommen):
  23. Bei der Produktion der angegriffenen Ausführungsformen wird zunächst Klebstoff auf die untere den Kern umhüllende Schicht aufgetragen, wobei der Klebestoffauftrag in der Abbildung türkis dargestellt wird („E“). Anschließend wird absorbierendes Material aufgetragen, wobei der grün eingezeichnete, U-förmige Bereich hiervon ausgenommen ist („Nichtsaugzone“). Der Klebeauftrag auf der oberen den Kern umhüllenden Schicht („F“) ist gelb dargestellt. Nach dem Übereinanderlegen beider Schichten ergibt sich das vorstehende Muster, wobei der rot gekennzeichnete Bereich eine Überlappung der Klebstoffaufträge darstellt, während in den weißen Bereichen auf keiner der beiden den Kern umhüllenden Schichten Klebstoff aufgetragen ist.
  24. Die Klägerin trägt vor, die Beklagten verletzten das Klagepatent unmittelbar wortsinngemäß, hilfsweise auf äquivalente Weise.
  25. Sie behauptet, die in den Testberichten des Instituts G in Anlage MB 10 und MB 15 untersuchten Produkte seien in Deutschland gekaufte angegriffene Ausführungsformen. Die Klägerin behauptet ferner, die in dem Testbericht nach Anlage MB 16 untersuchten Windeln seien solche mit der Bezeichnung „G (XXX)“. Diese seien von der Beklagten zu 1) im Jahre 2020 hergestellt und von der Klägerin am 11.03.2022 in Deutschland erworben worden. Ort und Zeitpunkt der Herstellung würden vom sog. Batchcode auf den Windeln belegt.
  26. Mit dem klagepatentgemäßen Bindemittelauftrag werde zum einen die Kontaminierung mit absorbierendem Material in den Zonen verhindert, in denen die den Kern einhüllenden Schichten aneinander befestigt werden sollen. Zum anderen werde die Ausbildung von temporären Befestigungen ermöglicht. Für die Lehre des Klagepatents sei entscheidend, dass es nicht zum Überlappen des Auftrages des ersten Bindemittels in die Befestigungszone hinein komme, wodurch es anderenfalls zu Kontaminierungen durch das (nachfolgend aufgetragene) absorbierende Material kommen würde. In diesem Sinne verstehe der Fachmann den Anspruchswortlaut „in einem Abstand von den Befestigungszonen“ als „nicht überlappend“. Dagegen schreibe das Klagepatent keinen Mindestabstand der Bereiche zueinander vor.
  27. Aus Abs. [0022] ergebe sich, dass Befestigungszonen mit den Flüssigkeitsverteilungszonen gleichzusetzen seien. Da die Ausbildung der Befestigungszonen durch eine Kontaminierung mit absorbierendem Material behindert werde, könnten die Befestigungszonen nur dort ausgebildet sein, wo kein Auftrag des ersten Bindemittels erfolgt, sondern nur das zweite Bindemittel aufgetragen ist. Der Vortrag der Klägerin in Parallelverfahren stehe der im vorliegenden Verfahren angeführten Definition einer Befestigungszone nicht entgegen. Da es sich bei Anspruch 1 um einen Vorrichtungsanspruch handele, sei unerheblich, wo Befestigungszonen „beabsichtigt“ seien.
  28. Die angegriffenen Ausführungsformen wiesen einen ersten Bereich mit einem ersten Bindemittel auf, der in einem Abstand zu den Befestigungszonen angeordnet sei. Bei dem grün eingezeichneten U-förmigen Bereich im Klebemuster handele es sich zwar um die Nichtsaugzone. Dies sei aber nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für die Ausbildung einer klagepatentgemäßen Befestigungszone. Befestigungszonen entständen bei den angegriffenen Ausführungsformen nur in den Bereichen der U-förmige Nichtsaugzone, wo zudem kein erstes Bindemittel, sondern nur ein zweites Bindemittel aufgetragen sei. Der Boden der U-förmigen Zone weise unstreitig keine Befestigung auf und sei deshalb keine klagepatentgemäße Befestigungszone. Nämliches gelte für die Enden der U-förmigen Zone. Zur Veranschaulichung der Befestigungszonen nach dem Vortrag der Klägerin wird nachfolgend eine Abbildung von ihr (von S. 7 des Schriftsatzes vom 24.03.2022 = Bl. 482 GA) eingeblendet, in der die Befestigungszonen dunkelrot hervorgehoben und nummeriert sind:
  29. Wie sich aus der vorstehenden Abbildung ergebe, seien die wesentlichen Befestigungszonen 1 und 2 (dunkelrot) im Abstand vom Bindemittelauftrag der unteren Lage (türkis). Nur hinsichtlich der kleinen Befestigungszonen 3 und 4, die keinen erheblichen Beitrag zur klagepatentgemäß angestrebten Flüssigkeitsverteilung leisteten, komme es zu einem marginalen Angrenzen (veranschaulicht durch blaue Pfeile). Dieses sei aber irrelevant, insbesondere vor dem Hintergrund der Funktion der Befestigungszonen als Kanäle für die Flüssigkeitsverteilung.
  30. Sollte man aufgrund dieser kleinen angrenzenden Bereiche zwischen dem ersten Bereich (türkis) und den Befestigungszonen 3 und 4 (dunkelrot) eine wortsinngemäße Patentverletzung ablehnen, läge jedenfalls eine äquivalente Patentverletzung vor, welche die Klägerin hilfsweise geltend macht. Da das Angrenzen nur sehr kleine Bereiche betreffe, komme es gerade nicht zur Kontaminierung der Befestigungszonen mit absorbierendem Material. Das Austauschmittel liege darin, die geforderte Beabstandung in sehr kleinen Bereichen auf Null zu setzen.
  31. „Im Wesentlichen komplementär“ in Bezug auf die beiden (Bindemittel-) Bereiche beziehe sich nach der Lehre des Klagepatents auf einen Auftrag im Wesentlichen ohne Überlappung. Durch den im Wesentlichen komplementären Bindemittelauftrag werde sichergestellt, dass im Bereich der Befestigungszonen durch das Nichtauftragen des ersten Bindemittels kein übermäßiger Bindemittelauftrag erfolge. Eine klagepatentgemäße Komplementarität liege vor, wenn der Bindemittelauftrag derart erfolge, dass sich die mit Bindemittel bedeckten Bereiche auf den beiden Schichten ergänzten, also im Wesentlichen keinen Überlapp hätten. „Im Wesentlichen“ sei vor dem Hintergrund der angestrebten Funktion des Merkmals zu verstehen, so dass es unschädlich sei, wenn die Bereiche der Bindemittelauftragung einen unwesentlichen Überlapp aufwiesen. Anders als die Beklagten meinten, verlange „im wesentlichen komplementär“ nicht, dass die komplementären Bindemittelauftragungen exakte Negative zueinander bilden müssten und die gesamte Fläche des absorbierenden Artikels abdeckten. Vielmehr belege Abs. [0023] – aber auch Abs. [0073] – der Beschreibung des Klagepatents, dass der vollflächige Bindemittelauftrag nur eine bevorzugte Ausführungsform darstelle.
  32. Bei den angegriffenen Ausführungsformen bestehe nur ein ganz geringer Überlapp auf der zentralen Längsachse des absorbierenden Artikels, der einer Komplementarität der beiden Bindemittelbereiche (türkis und gelb im Klebemuster) nicht entgegenstehe. Bei zutreffender Auslegung seien die weißen Bereiche ohne Klebstoffauftrag im Klebemuster unschädlich für die vom Klagepatent verlangte Komplementarität.
  33. Es bestehe kein Vorbenutzungsrecht. Die Beklagten seien im Prioritätszeitpunkt nicht im Erfindungsbesitz gewesen, was sich bei einem Vergleich der Klebemuster nach Anlage B&B 10 (2017) und Anlage MB 15 (2019) zeige. Anders als die Beklagten meinten, beständen in den Klebemustern beträchtliche Unterschiede. Bei der angeblichen Vorbenutzungsform seien die überlappenden Bereiche deutlich vermehrt, so dass keine klagepatentgemäße Komplementarität mehr vorliege. Anders als es die Beklagten vortragen, seien nicht nur die beiden äußeren Bahnen minimal schmäler geworden, sondern auch weitere Überlappungen weggefallen.
  34. Im Übrigen bestreitet die Klägerin den Vortrag der Beklagten zum Vorbenutzungsrecht.
  35. Das Verfahren sei nicht im Hinblick auf das Einspruchs(beschwerde-)verfahren auszusetzen. Die Entgegenhaltung D1 sei nicht neuheitsschädlich für das Klagepatent, was auch die Einspruchsabteilung bestätigt habe.
  36. Der Vortrag der Beklagten zur Sicherheitsleistung sei völlig unsubstantiiert und in keiner Weise glaubhaft gemacht. Für eine patentfreie Abwandlung seien nur geringfügige Änderungen erforderlich. Aus Sicht der Klägerin sei ein Streitwert von EUR 750.000,00 angemessen.
  37. Die Klägerin hat ihre Klageanträge zunächst auf die erteilte Anspruchsfassung des Klagepatents gestützt.
  38. Die Klägerin beantragt nach der beschränkten Aufrechterhaltung des Klagepatents im Einspruchsverfahren nunmehr:
  39. I.A. Die Beklagten werden verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000 EUR – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihren gesetzlichen Vertretern zu vollziehen ist, zu unterlassen, in der Bundesrepublik Deutschland
  40. absorbierende Artikel, die eine flüssigkeitsdurchlässige Oberschicht, eine flüssigkeitsundurchlässige Unterschicht und einen absorbierenden Kern mit einem absorbierenden Material zwischen einer oberen den Kern einhüllenden Schicht und einer unteren den Kern einhüllenden Schicht umfassen, wobei der absorbierende Kern zwischen der Oberschicht und der Unterschicht positioniert ist, wobei der absorbierende Kern mit Befestigungszonen zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht und der unteren den Kern einhüllenden Schicht versehen ist, wobei ein erstes Bindemittel in einem ersten Bereich zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht und der unteren den Kern einhüllenden Schicht in einem Abstand von den Befestigungszonen, auf einer von der oberen den Kern einhüllenden Schicht und der unteren den Kern einhüllenden Schicht nur in einer Vielzahl von longitudinalen, im Wesentlichen parallelen Streifen, die nicht mit den Befestigungszonen überlappen, angeordnet ist; und wobei ein zweites Bindemittel in einem zweiten Bereich entlang einer Vielzahl von longitudinalen, im Wesentlichen parallelen Streifen zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht und der unteren den Kern einhüllenden Schicht, auf der anderen von der oberen den Kern einhüllenden Schicht und der unteren den Kern einhüllenden Schicht angeordnet ist, wobei der erste Bereich zum zweiten Bereich im Wesentlichen komplementär ist, wobei der zweite Bereich die Befestigungszonen beinhaltet,
    (Unabhängiger Anspruch 1 des deutschen nationalen Teils des Europäischen Patents EP 3 XXX 368)
  41. herzustellen (nur die Beklagte zu 1), anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen.
  42. Hilfsweise:
  43. I.B. Die Beklagten werden verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000 EUR – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihren gesetzlichen Vertretern zu vollziehen ist, zu unterlassen, in der Bundesrepublik Deutschland
  44. absorbierende Artikel, die eine flüssigkeitsdurchlässige Oberschicht, eine flüssigkeitsundurchlässige Unterschicht und einen absorbierenden Kern mit einem absorbierenden Material zwischen einer oberen den Kern einhüllenden Schicht und einer unteren den Kern einhüllenden Schicht umfassen, wobei der absorbierende Kern zwischen der Oberschicht und der Unterschicht positioniert ist, wobei der absorbierende Kern mit Befestigungszonen zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht und der unteren den Kern einhüllenden Schicht versehen ist, wobei ein erstes Bindemittel in einem ersten Bereich zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht und der unteren den Kern einhüllenden Schicht im Wesentlichen in einem Abstand von den Befestigungszonen, auf einer von der oberen den Kern einhüllenden Schicht nur in einer Vielzahl von longitudinalen, im Wesentlichen parallelen Streifen, die nicht mit den Befestigungszonen überlappen, angeordnet ist; und wobei ein zweites Bindemittel in einem zweiten Bereich entlang einer Vielzahl von longitudinalen, im Wesentlichen parallelen Streifen zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht und der unteren den Kern einhüllenden Schicht, auf der anderen von der oberen den Kern einhüllenden Schicht und der unteren den Kern einhüllenden Schicht angeordnet ist, wobei der erste Bereich zum zweiten Bereich im Wesentlichen komplementär ist, wobei der zweite Bereich die Befestigungszonen beinhaltet,
  45. (Äquivalente Verletzung unabhängiger Anspruch 1 des deutschen nationalen Teils des Europäischen Patents EP 3 XXX 368)
  46. herzustellen (nur die Beklagte zu 1), anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen.
  47. II. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin denjenigen Schaden zu ersetzen, der dieser durch die seit dem 11.10.2019 begangene Handlungen gemäß Ziffer I. entstanden ist und künftig noch entsteht.
  48. III. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin gegliedert nach Kalendervierteljahren schriftlich in geordneter Form Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie die zu Ziffer I. bezeichneten Handlungen seit dem 11. Oktober 2019 begangen haben, und zwar unter der Angabe
  49. a) der einzelnen Lieferungen mit
  50. aa) Liefermengen, Zeiten und Preisen
  51. bb) Marken der jeweiligen Erzeugnisse sowie Typenbezeichnung, Artikelbezeichnung, laufender Produktnummer
  52. cc) den Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer
  53. wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
  54. b) der einzelnen Angebote mit
  55. aa) Angebotsmengen, Zeiten und Preisen
  56. bb) Marken der jeweiligen Erzeugnisse sowie Typenbezeichnung, Artikelbezeichnung, laufender Produktnummer
  57. cc) den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger
  58. c) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer, jeweils mit der Anzahl erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse,
  59. d) der nach der einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten sowie des Gewinns;
  60. wobei den Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von dieser zu bezeichnenden, dieser gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, vereidigten und in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten die durch dessen Einschaltung entstehenden Kosten übernehmen und ihn ermächtigen, der Klägerin auf Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Angebotsempfänger in der Rechnungslegung enthalten ist.
  61. IV. Die Beklagten werden verurteilt, die sich seit dem 11.10.2019 in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz befindlichen Erzeugnisse gemäß Ziffer I. an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf Kosten der Beklagten herauszugeben.
  62. V. Die Beklagten werden verurteilt, die unter Ziffer I. bezeichneten, im Besitz Dritter befindlichen Erzeugnisse aus den Vertriebswegen zurückzurufen, indem diejenigen Dritten, denen durch die Beklagten oder mit Zustimmung der Beklagten Besitz an den Erzeugnissen eingeräumt wurde, unter Bezugnahme auf das hiesige Urteil aufgefordert werden, die Erzeugnisse an die Beklagten zurückzugeben und den Dritten für den Fall der Rückgabe des Erzeugnisses eine Rückzahlung des ggf. bereits bezahlten Kaufpreises sowie die Übernahme der Kosten der Rücknahme zugesagt wird; wobei diese Verpflichtung nur für nach dem 11. Oktober 2019 in Verkehr gebrachte Erzeugnisse gemäß Ziffer I. gilt.
  63. Weiterhin beantragt die Klägerin die Festsetzung von Teilsicherheiten für die vorläufige Vollstreckung der einzelnen Ansprüche.
  64. Die Beklagten beantragen,
  65. die Klage abzuweisen;
  66. hilfsweise,
    die Verhandlung des Rechtsstreits bis zum Abschluss des Einspruchsbeschwerdeverfahrens über den Einspruch betreffend des europäischen Patents EP 3 XXX XXX B1 auszusetzen;
  67. höchst hilfsweise,
    das Urteil nur gegen Sicherheitsleistung von mindestens EUR 20 Mio. für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
  68. Die Beklagten meinen, die Klage sei unbegründet.
  69. Der Vortrag der Klägerin zu den Verletzungshandlungen sei unschlüssig und unsubstantiiert.
  70. Das Klagepatent wolle erreichen, dass Klebstoff zunächst auf dem oberen oder unteren Teil der Kern-Umhüllungslage aufgebracht werde, damit das absorbierende Material im nächsten Herstellungsschritt daran kleben bleibe. Überall, wo der erste Bereich (Klebstoff) sei, bleibe das absorbierende Material hängen, in den übrigen Bereichen nicht. Das zweite Bindemittel sei für die jeweils andere Umhüllungslage des Kerns vorgesehen und solle klagepatentgemäß im Wesentlichen komplementär zum Gebiet der ersten Umhüllungslage sein.
  71. Der vorgeschriebene Abstand diene klagepatentgemäß dazu, eine Verunreinigung der Befestigungszonen durch das erste Bindemittel zu vermeiden, aufgrund der absorbierendes Material in der Befestigungszone anhaften könnte, was eine Verbindung der den Kern einhüllenden Lagen verhindern würde.
  72. Es sei unzutreffend, dass eine Befestigungszone nur dort ausgebildet werden könne, wo kein Bindemittel auf der ersten Lage in diesem Bereich aufgetragen worden sei. Bindemittel in den Befestigungszonen würden nicht dazu führen, dass diese Befestigungszonen nicht mehr existierten, sondern nur zu deren Verunreinigung. Es müsse bereits im Vorfeld festgelegt sein, wo sich die Befestigungszonen später befinden sollen – dem Klagepatent gehe es um einen Abstand zu den beabsichtigten späteren Befestigungszonen.
  73. Bei den angegriffenen Ausführungsformen bestehe kein Abstand zwischen dem Bindemittel im ersten Bereich und den Befestigungszonen. Vielmehr werde das Bindemittel sogar direkt in die Befestigungszone gegeben. Als solche sei bei den angegriffenen Ausführungsformen der gesamte U-förmige Bereich anzusehen. An drei Stellen des U-förmigen Befestigungsbereichs finde ein Auftrag eines ersten Bindemittels statt, so dass die Befestigungszone an diesen drei Stellen mit absorbierendem Material kontaminiert werde.
  74. Die hiesige Definition der Befestigungszonen der Klägerin widerspreche auch ihrem Vortrag in den Parallelverfahren 4a O 94/19 und 4a O 14/21. Aber selbst wenn man von der klägerischen Definition der Befestigungszonen ausgehe, bestehe ein solcher Abstand nicht zu den Befestigungszonen (Plural), da jedenfalls die oberen Befestigungszonen an den Enden der Schenkel des Us an den ersten Bindemittelbereich angrenzten.
  75. Klagepatentgemäß müsse der erste Bereich zum zweiten Bereich im Wesentlichen komplementär sein. „Komplementär“ bedeute, dass es weder Überlappungen, noch freie Stellen ohne Kleber geben dürfe. Der komplementäre Auftrag des ersten und zweiten Bindemittels werde in den Figuren 10a – 10c gezeigt, wobei nach Auftrag beider Bindemittel die gesamte Fläche der Kernumhüllungslagen mit Klebstoff versehen sein müsse. Weiterhin gebe es klagepatentgemäß keine „unschädlichen“ Überlappungszonen. „Im wesentlichen“ sei entsprechend der EPA-Richtlinien als „soweit es technisch möglich ist“ zu verstehen.
  76. Entgegen der Lehre des Klagepatents sei bei den angegriffenen Ausführungsformen in vielen Bereichen auf keiner der beiden Umhüllungslagen Kleber vorhanden, während ein überlappender Kleberbereich mittig entlang der Längsachse durch die angegriffenen Ausführungsform verlaufe, so dass es eine wesentliche Überlappung gebe.
  77. Es liege auch keine äquivalente Patentverletzung vor. Der Abstand zwischen dem ersten Bereich und den Befestigungszonen solle deren Verunreinigung verhindern, was aber bei einem Angrenzen nicht erreicht werde.
  78. Sollte man davon ausgehen, dass die angegriffenen Ausführungsformen von der Lehre des Klagepatents Gebrauch machten, stände den Beklagten ein Vorbenutzungsrecht zu. Die Beklagten behaupten, der einzige Unterschied zwischen der Vorbenutzungsform und den angegriffenen Ausführungsformen sei, dass jeweils links und rechts neben der U-förmigen Zone weitere kleine Bereiche bestehen, die eine Überlappung aufwiesen (von jeweils 2,5 mm Breite). Wenn die Überlappung in der Mitte bei den angegriffenen Ausführungsformen aus Sicht der Klägerin unbeachtlich sei, müsse dies auch für die übrigen Überlappungen gelten. Zur Veranschaulichung des Beklagtenvortrags wird nachfolgend ein von diesen auf S. 20 des Schriftsatzes vom 10.03.2022 (= Bl. 466 GA) gezeigter Vergleich der Klebemuster der angegriffenen Ausführungsformen (links) und der Vorbenutzungsform (rechts) eingeblendet:
  79. Diesen Erfindungsbesitz hätten die Beklagten auch ausgeübt, etwa durch Home Use Tests, Untersuchungen in externen Laboren und die Herstellung und Versand an XXX zur Produkteinführung. Die Beklagte zu 2) könne sich als Vertriebsunternehmen auf ein von der Beklagten zu 1) abgeleitetes Vorbenutzungsrecht berufen.
  80. Weiterhin ständen den Beklagten positive Benutzungsrechte aus dem deutschen Gebrauchsmuster DE 20 2016 XXX 757 und dem EP 3 XXX 386 zu.
  81. Das Verfahren sei hilfsweise auszusetzen, da die beschränkte Aufrechterhaltung des Klagepatents durch die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts offensichtlich unrichtig sei. Das Klagepatent werde in einem von einer Konzerngesellschaft der Beklagten beabsichtigten Beschwerdeverfahren widerrufen werden. Der geltend gemachte Anspruch werde auch in der aufrechterhaltenen Fassung von der WO 2012/XXX A1 (nachfolgend: D1) neuheitsschädlich vorweggenommen.
  82. Das Urteil dürfe allenfalls gegen eine Sicherheit von mindestens 20 Mio. Euro für vorläufig vollstreckbar erklärt werden. Die Beklagte zu 1) stelle pro Jahr 1,2 Mrd. anspruchsgemäße Windeln her, ihr Umsatz in Deutschland liege damit bei ca. 40 Mio. Euro im Jahr 2020. Der Streitwert von 1,5 Mio. Euro – vor der Abtrennung des Verfahrens – sei deutlich untersetzt.
  83. Das Gericht hat den Parteien und den Prozessbevollmächtigten von Amts wegen gestattet, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen über den von der Justiz des Landes NRW zur Verfügung gestellten Virtuellen Meetingraum (VMR) vorzunehmen. Davon haben die Prozessbevollmächtigten Gebrauch gemacht.
  84. Für die Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die ausgetauschten Schriftsätze samt Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
  85. Entscheidungsgründe
  86. Die zulässige Klage ist unbegründet. Eine Verletzung des Klagepatents kann nicht festgestellt werden, so dass der Klägerin gegen die Beklagten die geltend gemachten Ansprüche aus Art. 64 EPÜ i.V.m. §§ 139 Abs. 1, Abs. 2, 140a Abs. 1, Abs. 3, 140b PatG, §§ 242, 259 BGB nicht zustehen.
  87. I.
    Die angegriffenen Ausführungsformen machen von der Lehre des Klagepatents weder wortsinngemäß noch auf äquivalente Weise Gebrauch.
  88. 1.
    Das Klagepatent, dem die nachfolgend ohne Quellenangabe zitierten Absätze entstammen, betrifft absorbierende Artikel, vorzugsweise persönliche Hygieneartikel für den einmaligen Gebrauch wie Windeln, Babyhöschen, Inkontinenzkleidung für Erwachsene und dergleichen und absorbierende Strukturen zur Verwendung in solchen absorbierenden Artikeln. Dabei umfasst die absorbierende Struktur einen absorbierenden Kern zwischen einer Oberschicht und einer Unterschicht (Abs. [0001]).
  89. In seiner einleitenden Beschreibung schildert das Klagepatent, das absorbierende Artikel wie Windeln etc. typischerweise einen absorbierenden Kern umfassen, der zwischen einer flüssigkeitsdurchlässigen, (semi-) hydrophilen Oberschicht und einer flüssigkeitsundurchlässigen Unterschicht angeordnet ist. Der absorbierende Kern umfasst absorbierendes Material, das imstande ist, fluide und flüssige Körperausscheidungen des Benutzers des absorbierenden Artikels zu absorbieren (Abs. [0002]).
  90. Das absorbierende Material des absorbierenden Kerns kann ein absorbierendes teilchenförmiges Polymermaterial sein, das in einer Matrix von Zellulosefasern oder Flockenzellstoff verteilt ist. Wenn das teilchenförmige Polymermaterial Flüssigkeit absorbiert, kann es dazu neigen, zu quellen und eine Gelstruktur zu bilden. Diese Gelstruktur blockiert häufig den Weitertransport von Flüssigkeit in den übrigen absorbierenden Kern. Infolgedessen kann die Flüssigkeit nicht imstande sein, das übrige absorbierende teilchenförmige Polymermaterial zu erreichen, und die Wirksamkeit des gesamten absorbierenden Artikels nimmt signifikant ab. Bestehende Flockenzellstoffmaterialien sind nicht geeignet, rasche aufeinanderfolgende Belastungen von Fluid zu bewältigen, da sie begrenzte Verteilungskapazitäten besitzen. Ferner weisen bestehende Flockenzellstoffmaterialien eine begrenzte Kapazität einer Flüssigkeitsgesamtaufnahme auf. Überdies haben bestehende absorbierende Kerne, die Flockenzellstoff beinhalten, eine begrenzte Nassintegrität, was dazu führt, dass Form und Passform des absorbierenden Artikels verformt werden, wenn z.B. ein absorbierender Artikel von einem Baby getragen wird, das sich bewegt (Abs. [0003]).
  91. In den letzten Jahren besteht ein starker Bedarf an flexibleren, dünneren, leichten absorbierenden Artikeln. Dies führt zur Suche nach und Entwicklung und Produktion von absorbierenden Artikeln, deren absorbierende Kerne wenig bis keine(n) Zellulosefasern oder Flockenzellstoff beinhalten, da diese dazu neigen, ziemlich voluminös zu sein (Abs. [0004]). Daher wurden in den letzten Jahren verschiedene absorbierende Kerne, die wenig bis keine(n) Zellulosefasern oder Flockenzellstoff beinhalten entwickelt, die jedoch verschiedene Probleme aufweisen (Abs. [0005]). Ein Problem besteht in der Migration, dem Verlust oder Lecken des absorbierenden teilchenförmigen Polymermaterials aus dem absorbierenden Artikel während des trockenen und/oder nassen Zustands, was zu Reizungen, Hautproblemen und einem gesamten Unbehagen für den Benutzer führt. Dies gilt wiederum im Speziellen in den homogener verteilten absorbierenden Strukturen, da ihre Immobilisierungs- und Flüssigkeitsverteilungseigenschaften bisher nicht zufriedenstellend waren. Dieser Mangel an wirksamer und effizienter Immobilisierung und Flüssigkeitsverteilung führt zu mangelhaften absorbierenden Artikeln aufgrund der verringerten Aufnahmekapazität, Gelblockierung, verstärkten Wiederbenässungswerten, Lecks und der Bildung von Rissen und/oder Nadellöchern durch die flüssigkeitsdurchlässige Oberschicht und/oder flüssigkeitsundurchlässige Unterschicht solcher absorbierender Artikel (Abs. [0006]).
  92. Absorbierende Kerne haben im Allgemeinen eine hohe absorbierende Kapazität und der absorbierende Kern kann sein Gewicht und Volumen um ein Vielfaches erweitern. Dadurch kann der absorbierende Artikel verformt werden und/oder in der Schrittregion durchhängen, wenn er mit Flüssigkeit gesättigt wird. Dies kann Lecks verursachen, die über einen Längs- und/oder Querrand des absorbierenden Artikels auftreten (Abs. [0007]).
  93. Das Klagepatent nennt zwei Schriften aus dem Stand der Technik, ohne an den dort offenbarten Gegenständen Kritik zu üben (Abs. [0008] f.). So zeigt die EP 2 XXX 000 A1 eine absorbierende Struktur mit Kanälen. Eine erste endlose bewegliche Fläche ist vorgesehen, die einen oder mehrere, im Wesentlichen in Längsrichtung verlaufende, erste passende Streifen aufweist, und die zweite endlose bewegliche Fläche ist vorgesehen, die entsprechende, in Längsrichtung verlaufende, zweite passende Streifen aufweist. Auf die erste und zweite Auflageschichten wird zwischen dem ersten und zweiten passenden Streifen, zumindest innerhalb eines Teils des Gebiets der Kanäle Druck ausgeübt, um so die erste und zweite Auflageschicht aneinander zu heften und Kanäle zu erzeugen, die frei von absorbierendem Material sind (Abs. [0009]).
  94. Vor diesem Hintergrund bezeichnet es das Klagepatent in Abs. [0010] als seine Aufgabe, einen absorbierenden Artikel mit verbesserten Flüssigkeitsverteilungs- und Absorptionskapazitäten vorzusehen.
  95. 2.
    Zur Lösung schlägt das Klagepatent einen absorbierenden Artikel gemäß des beschränkt aufrechterhaltenen Patentanspruchs 1 vor. Dieser lässt sich in Form einer Merkmalsgliederung wie folgt darstellen:
  96. Absorbierender Artikel (100)
  97. 1 Der absorbierende Artikel weist eine flüssigkeitsdurchlässige Oberschicht auf.
  98. 2 Der absorbierende Artikel weist eine flüssigkeitsundurchlässige Unterschicht auf.
  99. 3 Der absorbierende Artikel weist einen absorbierenden Kern (130) auf.
  100. 3.1 Der absorbierende Kern ist zwischen der Oberschicht und der Unterschicht positioniert.
  101. 3.2 Der absorbierende Kern umfasst ein absorbierendes Material zwischen einer oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und einer unteren den Kern einhüllenden Schicht (120).
  102. 3.3 Der absorbierende Kern ist mit Befestigungszonen (140, 150) zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern einhüllenden Schicht (120) versehen.
  103. 4 Ein erstes Bindemittel ist in einem ersten Bereich zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern einhüllenden Schicht (120) angeordnet.
  104. 4.1 Der erste Bereich ist auf einer von der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern einhüllenden Schicht (120) angeordnet.
  105. 4.2 Der erste Bereich ist nur in einer Vielzahl von longitudinalen, im Wesentlichen parallelen Streifen angeordnet.
  106. 4.3 Die Streifen (des ersten Bereichs) überlappen nicht mit den Befestigungszonen.
  107. 4.4 Der erste Bereich ist in einem Abstand von den Befestigungszonen (140, 150) angeordnet.
  108. 5 Ein zweites Bindemittel ist in einem zweiten Bereich zwischen der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern einhüllenden Schicht (120) angeordnet.
  109. 5.1 Der zweite Bereich ist auf der anderen von der oberen den Kern einhüllenden Schicht (110) und der unteren den Kern einhüllenden Schicht (120) angeordnet.
  110. 5.2 Der zweite Bereich ist entlang einer Vielzahl von longitudinalen, im Wesentlichen parallelen Streifen angeordnet.
  111. 5.3 Der zweite Bereich beinhaltet die Befestigungszonen.
  112. 6 Der erste Bereich ist zum zweiten Bereich im Wesentlichen komplementär.
  113. 3.
    Anspruch 1 ist gerichtet auf einen absorbierenden Artikel, der eine flüssigkeitsdurchlässige Oberschicht, eine flüssigkeitsundurchlässige Unterschicht und einen dazwischen positionierten absorbierenden Kern aufweist (Merkmale 1 – 3.1). Mit Oberschicht ist die bei der Benutzung des absorbierenden Artikels zum Körper gewandte Schicht gemeint. Diese soll flüssigkeitsdurchlässig sein, damit Körperausscheidungen durch die Oberschicht hindurchtreten und von dem absorbierenden Kern aufgesaugt werden können. Dagegen ist die Unterschicht flüssigkeitsundurchlässig, um ein Austreten von Körperflüssigkeiten aus dem absorbierenden Artikel zu vermeiden.
  114. a)
    Der absorbierende Kern umfasst absorbierendes Material, das zwischen einer oberen und einer unteren den Kern umhüllenden Schicht (nachfolgend auch: Umhüllungslagen) angeordnet ist (Merkmal 3.2). Das absorbierende Material kann zelllulosehaltigen Flockenzellstoff umfassen oder im Wesentlichen flockenlos sein (Abs. [0019]).
  115. Zwischen diesen Schichten sind weiterhin Befestigungszonen vorgesehen (Merkmal 3.3). Die Verbindung zwischen den beiden den Kern umhüllenden Schichten in den Befestigungszonen kann dauerhaft oder semi-dauerhaft sein. Im letzten Fall kann sich die Befestigung bei Kontakt mit Flüssigkeit lösen (Abs. [0015]). Diese Befestigungszonen soll patentgemäß als Flüssigkeitsverteilungszonen für die in den absorbierenden Kern eintretende Flüssigkeit dienen (Abs. [0012], vergleiche hierzu unter b)).
  116. Die Merkmale 4 – 6 beschreiben Bindemittel, die in einem ersten und einem zweiten Bereich zwischen den Kern umhüllenden Schichten angeordnet sind (Merkmale 4 und 5). Nach der Definition in Abs. [0090] ist als Bindemittel letztlich jede Art von Klebstoff anzusehen.
  117. Das Klagepatent unterscheidet zwischen einem ersten Bereich, in dem ein erstes Bindemittel angeordnet ist, und einem zweiten Bereich mit einem zweiten Bindemittel. Das erste Bindemittel kann sich vom zweiten Bindemittel unterscheiden oder dasselbe sein wie das zweite Bindemittel (Abs. [0014]). Der erste und der zweite (Bindemittel-) Bereich sind jeweils auf unterschiedlichen Schichten angeordnet, wie Merkmal 5.1 zeigt. Dabei bleibt es dem Fachmann überlassen, ob der erste Bereich auf der oberen oder der unteren den Kern umhüllenden Schicht angeordnet ist, sofern der jeweils andere (Bindemittel-) Bereich auf der anderen den Kern umhüllenden Schicht angeordnet ist (vgl. die Merkmale 4.1 und 5.1). Gemäß der im Rahmen des Einspruchsverfahrens neu in den Anspruch aufgenommenen Merkmale 4.2 und 5.2 sind die (Bindemittel-) Bereiche jeweils entlang einer Vielzahl von longitudinalen, im Wesentlichen parallelen Streifen auf den Schichten angeordnet.
  118. Die beiden (Bindemittel-) Bereiche unterscheiden sich – neben ihrer Anordnung auf anderen Umhüllungslagen – darin, dass der erste Bereich in einem Abstand von den Befestigungszonen angeordnet ist und sich mit diesen nicht überlappt (Merkmale 4.3, 4.4). Die Befestigungszonen sollen nach Merkmal 5.3 vielmehr im zweiten (Bindemittel-) Bereich angeordnet sein. Dabei müssen sie aber nicht den gesamten zweiten Bereich ausfüllen, wie das Ausführungsbeispiel nach den Figuren 10A-D zeigt. Das Bindemittel im ersten Bindemittelbereich soll im Rahmen der Produktion nachfolgend aufgetragenes absorbierendes Material halten.
  119. Schließlich sollen die beiden Bereiche im absorbierenden Artikel zueinander im Wesentlichen komplementär sein (Merkmal 6).
  120. b)
    Das technische Problem des Klagepatents wird insbesondere durch die Befestigungszonen gelöst, die der besseren Verteilung und Absorption von Flüssigkeit dienen, wenn der absorbierende Kern benässt wird (Abs. [0012]). Durch die als Kanäle wirkenden Befestigungszonen kann die aufgenommene Flüssigkeit fließen und von dem absorbierenden Kern durch die Seitenwände der Vielzahl von Befestigungszonen absorbiert werden, zusätzlich zur Absorption von Flüssigkeit durch die Deckfläche des
    absorbierenden Kerns (Abs. [0012]). Dadurch kann effektiv eine größere Menge absorbierenden Materials für die Aufnahme der Flüssigkeit genutzt werden.
  121. Weiterhin vermeidet die anspruchsgemäße Anordnung der Bindemittelbereiche eine Kontamination der Befestigungszonen durch absorbierendes Material, indem ein Bindemittel gerade nicht auf die gesamte Fläche einer Umhüllungslage aufgetragen wird. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das absorbierende Material und/oder Bindemittel die Befestigungszonen verunreinigen und somit die Bildung der Flüssigkeitsverteilungszonen verhindern könnte (Abs. [0022]). Durch die anspruchsgemäße Anordnung der Bindemittel auf den beiden den Kern umhüllenden Schichten (Umhüllungslagen) ist das absorbierende Material nur dort vorhanden, wo der erste Bereich auf der einen Umhüllungslage angeordnet ist (vgl. Abs. [0138]). Dagegen ist das zweite Bindemittel (zweiter Bereich), in dem die Befestigungszonen liegen, nur dort angeordnet, wo kein absorbierendes Material vorhanden sein sollte, was eine Verunreinigung der Befestigungszonen mit absorbierendem Material verhindert (Abs. [0022]).
  122. 4.
    Die angegriffenen Ausführungsformen machen von der Lehre des Klagepatents keinen Gebrauch, da es jedenfalls an einer Verwirklichung von Merkmal 6 fehlt. Für dieses Merkmal macht die Klägerin keine äquivalente Verletzung geltend, so dass auch der Hilfsantrag ohne Erfolg bleibt.
  123. a)
    Merkmal 6, wonach der erste Bereich zum zweiten Bereich im Wesentlichen komplementär ist, verlangt nicht, dass bei einem Übereinanderlegen der beiden den Kern umhüllenden Schichten die sich ergebende Fläche vollständig von einem der beiden Bindemittelbereiche bedeckt ist. Vielmehr darf es auch klebstofffreie Bereiche innerhalb des absorbierenden Kerns geben (hierzu unter aa)). Jedoch verbietet Merkmal 6 eine wesentliche Überlappung zwischen den beiden (Bindemittel-) Bereichen auf den Umhüllungslagen. Eine Überlappung führt aus dem Schutzbereich des Klagepatents heraus, wenn sie mehr als nur geringfügig ist und sich bei der Produktion ohne Probleme vermeiden ließe (hierzu unter bb).
  124. aa)
    Merkmal 6 lehrt nicht, dass die beiden (Bindemittel-) Bereiche zusammen die gesamte Fläche zwischen den beiden Umhüllungslagen ausfüllen müssen. Eine entsprechende Forderung lässt sich dem Anspruch nicht entnehmen. „Komplementär“ bezieht sich nach dem Wortlaut des Patentanspruchs nur auf die beiden Bereiche zueinander, nicht aber auf die gesamte Fläche. Eine zwingende Forderung, die gesamte Fläche mit komplementären Bindemittelbereichen zu versehen, lässt sich auch nicht aus der Beschreibung herleiten. Der Fachmann sieht dies darin bestätigt, dass ein flächendeckender Auftrag des Bindemittels nur als vorzugsweise Ausführungsvariante beschrieben ist. Hieraus schließt er, dass dies im Rahmen der beanspruchten Lehre nicht zwingend, sondern nur vorteilhaft ist. So beschreibt das Klagepatent etwa in Abs. [0023] als vorzugsweises Ausführungsbeispiel, im Wesentlichen die gesamte Fläche des absorbierenden Artikels entweder auf dem ersten Lagematerial oder dem zweiten Lagematerial mit Bindemittel zu versehen. Auch in Abs. [0073] wird eine solche Gestaltung als bevorzugte Ausführungsform dargestellt.
  125. Die Komplementarität der beiden Bereiche dient dazu, unnötigen Auftrag von Bindemittel zu verhindern. Während klagepatentgemäß das Bindemittel im ersten Bereich absorbierendes Material halten soll, sollen innerhalb des zweiten Bereichs die Befestigungszonen gebildet werden (Merkmal 5.3). Ist aber in einem Gebiet ein erster Bereich vorhanden, kann hierin keine Befestigungszone mehr gebildet werden (vgl. Merkmal 4.3). Der Auftrag von Bindemittel auf der gegenüberliegenden den Kern umhüllenden Schicht wäre daher überflüssig. Demgegenüber ist es aus Sicht des Klagepatents unschädlich, wenn es Flächen auf den zusammengefügten Umhüllungslagen gibt, auf denen überhaupt kein Klebstoff vorhanden ist. Solche Flächen stehen der vom Klagepatent beabsichtigten verbesserten Flüssigkeitsverteilung und Absorptionskapazität nicht entgegen.
  126. bb)
    Vielmehr ist „komplementär“ dahingehend zu verstehen, dass es zwischen den beiden Bereichen im Wesentlichen keine Überlappung gibt. Eine Überlappung ist aber schon dann schädlich für die geforderte Komplementarität, wenn sie mehr als nur geringfügig ist und sich bei der Produktion des absorbierenden Artikels ohne weiteres vermeiden ließe.
  127. (1)
    Das Klagepatent gibt weder im Anspruch noch in der Beschreibung einen konkreten Anhaltspunkt dazu, was als „wesentlich“ zu verstehen ist. Der Fachmann erkennt aber, dass „im Wesentlichen“ die Forderung der Komplementarität etwas aufweicht und dazu dient, auch solche absorbierenden Artikel vom Anspruch zu erfassen, bei denen insbesondere produktionsbedingt eine unvermeidbare Überlappung zwischen den beiden Bereichen besteht. Allerdings weiß der Fachmann, dass er beim Nacharbeiten der geschützten Lehre Überlappungen soweit wie möglich vermeiden soll. Es lässt sich nämlich kein Anhaltspunkt dafür finden, dass kleine Überlappungen vom Klagepatent gewünscht sind.
  128. Nach der Lehre des Klagepatents können beide (Bindemittel-) Bereiche im fertigen Produkt unmittelbar aneinander angrenzen. Der Anspruch verlangt zwischen dem ersten Bereich und dem zweiten Bereich nur eine im Wesentlichen komplementäre Anordnung, aber gerade keinen Abstand wie zwischen dem ersten Bereich und den Befestigungszonen (Merkmal 4.4). Das so zugelassene Angrenzen der beiden (Bindemittel-) Bereiche ist von der beanspruchten Lehre sogar ausdrücklich gewünscht, da nur so die gesamte Fläche zwischen den beiden den Kern umhüllenden Schichten in Summe mit Bindemittel bedeckt ist, was das Klagepatent als bevorzugte Ausführungsform beschreibt (vgl. Abs. [0023]).
  129. Bei der Herstellung eines absorbierenden Artikels muss der Auftrag der Bindemitte zwangsläufig auf jede der beiden den Kern umhüllenden Schichten separat erfolgen. Anschließend werden die beiden Schichten (Umhüllungslagen) aufeinander gelegt und zusammengefügt (vgl. das Beispiel in Abs. [0076]). Zur Schaffung der gewünschten angrenzenden (Bindemittel-) Bereiche bedarf es daher eines präzisen Auftrags und eines präzisen Übereinanderlegens der beiden Schichten. Da dies nicht immer erreicht werden mag, verlangt das Klagepatent keine absolute Komplementarität, sondern nur eine Anordnung des ersten Bereichs im Wesentlichen komplementär zum zweiten Bereich. Vor diesem Hintergrund versteht der Fachmann, dass die beiden Bereiche nicht mehr im Wesentlichen komplementär zueinander angeordnet sind, wenn sie sich in einem Maße überlappen, welches bei der Produktion des absorbierendes Artikels ohne weiteres vermieden werden könnte.
  130. Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 28.04.2022 angeführt hat, „im Wesentlichen“ sei dahingehend zu verstehen, dass in kritischen Bereichen – also den Befestigungszonen – kein Überlapp erfolgt, kann dem nicht gefolgt werden. Das Klagepatent fordert, dass zwischen dem ersten Bereich und den Befestigungszonen ein Abstand besteht (Merkmal 4.4). Merkmal 6 wäre damit überflüssig, wenn mit „im Wesentlichen“ nur gemeint ist, dass der erste Bereich nicht mit Befestigungszonen im zweiten Bereich überlappen darf, ansonsten aber ein Überlappen mit dem zweiten Bereich unschädlich wäre. Merkmal 6 betrifft aber gerade nicht die Befestigungszonen, sondern das Verhältnis des ersten und des zweiten Bereichs zueinander.
  131. (2)
    Dieses Verständnis von „im wesentlichen“ wird bestätigt von den EPA-Richtlinien (Ziffer 4.7.1), gemäß denen „im Wesentlichen“ in Bezug auf eine strukturelle Einheit einer Vorrichtung als technisches Merkmal auszulegen ist, „das innerhalb der technischen Toleranzgrenzen des Herstellungsverfahrens hervorgebracht wird“. Zwar handelt es sich bei den EPA-Richtlinien nicht um Auslegungsmaterial des Klagepatents. Jedoch geben sie – ähnlich wie ein Fachwörterbuch – einen Hinweis auf das allgemeine, fachsprachliche Verständnis des Begriffs „im wesentlichen“.
  132. Die Ausführungen in den EPA-Richtlinien dürfen bei der Auslegung nicht unbesehen herangezogen werden, da ein Schutzrecht für die in ihm verwendeten Begriffe sein eigenes Lexikon darstellt (BGH, GRUR 2002, 515 – Schneidmesser I; GRUR 1999, 909 – Spannschraube). Die Richtlinien geben aber einen Hinweis auf den allgemeinen (fachsprachlichen) Sprachgebrauch, da davon auszugehen ist, dass die EPA-Richtlinien die Fachsprache widerspiegeln, andererseits aber ihrerseits auch die Verwendung der Sprache bei der Abfassung einer Schutzrechtsanmeldung beeinflussen. Zwar hat auch der allgemeine (Fach-) Sprachgebrauch für die Ermittlung des maßgeblichen technischen Sinngehalts des Anspruchs keine abschließende Bedeutung; auf ihn darf bei der Patentauslegung nichts desto trotz zurückgegriffen werden, weil in der Regel Begriffe mit ihrem (auf dem betroffenen Fachgebiet) üblichen Inhalt verwendet werden (vgl. BGH, GRUR, 2016, 169 Rn. 17 – Luftkappensystem, OLG Düsseldorf, Urteil vom 26.10.2017 – I-15 U 95/16). Entscheidend ist aber, ob der maßgebliche technische Sinngehalt, wie er dem als seinem eigenen Lexikon dienenden Klagepatent zu entnehmen ist, mit diesem allgemeinen Sprachverständnis übereinstimmt. Dabei reicht es noch nicht aus, dass es keine Anhaltspunkte für ein abweichendes Begriffsverständnis gibt; vielmehr kommt es darauf an, ob die maßgebliche Berücksichtigung der objektiven Aufgabe und Lösung des Klagepatents unweigerlich zu dem Begriffsverständnis des allgemeinen Sprachgebrauchs führt (vgl. BGH, GRUR, 2016, 169 Rn. 16 f. – Luftkappensystem, OLG Düsseldorf, Urteil vom 26.10.2017 – I-15 U 95/16). Vorliegend bestätigen die EPA-Richtlinien das sich bereits unmittelbar aus dem Klagepatent ergebende Verständnis, dass mit „im Wesentlichen“ solche Ausführungsformen erfasst werden sollen, bei denen sich – insbesondere produktionsbedingt – eine geringfügige Überlappung zwischen den beiden angrenzenden Bereichen ergibt. Aus diesem Grund kann hier auf sie zur Stützung der Auslegung zurückgegriffen werden.
  133. b)
    Auf Grundlage dieser Erwägungen lässt sich eine Verwirklichung von Merkmal 6 bei den angegriffenen Ausführungsformen nicht feststellen. Bei diesen sind der erste und der zweite Bereich – also der „E“ (türkis) und der „F“ (gelb) – nicht im Wesentlichen komplementär zueinander. Zur Veranschaulichung wird nachfolgend erneut das Klebemuster der angegriffenen Ausführungsformen eingeblendet:
  134. Nach dem unbestrittenen Vortrag der Beklagten sind bei einer Gesamtbreite des Klebemusters von 140 mm insgesamt 30 mm der unteren Umhüllungsschicht (türkis; erster Bereich) und insgesamt 85 mm der oberen Umhüllungsschicht (gelb; zweiter Bereich) mit Kleber versehen. Hiervon überschneiden sich beide Klebstoffbahnen auf einer Breite von 5 mm in der Mitte der angegriffenen Ausführungsform (rot). Dies entspricht einem Sechstel der unteren Klebstoffbahnen – also des ersten Bereichs – und ist damit nicht mehr unwesentlich. Dies gilt auch dann, wenn man die Summe der beiden Klebebereiche betrachtet.
  135. Es ist nicht ersichtlich, dass die Überlappung bei der Produktion kaum zu vermeiden war, um angrenzende Klebebereiche herzustellen. Vielmehr ist ein Klebestreifen (gelb) auf der oberen den Kern umhüllenden Schicht (zweiter Bereich) mitten in einem Bereich angeordnet, bei dem auf der unteren Umhüllungslage ein breiterer Klebestreifen (türkis) aufgebracht wurde. Es handelt sich also gerade nicht um eine Überlappung, die Folge des Angrenzens der beiden Bereiche ist.
  136. II.
    Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
  137. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.
  138. III.
    Der Klägerin war kein Schriftsatznachlass zum Vortrag der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 28.04.2022 einzuräumen, wonach am Boden des U der angegriffenen Ausführungsform eine Befestigung sei. Auf den behaupteten Vortrag der Beklagten kam es nicht an. Weiterhin haben die Beklagten klargestellt, dass sich diese Aussage nur auf das bezieht, was in der Anlage MB 16 zu erkennen sei.
  139. Der nicht nachgelassene Schriftsatz der Beklagten vom 03.05.2022 fand bei der Entscheidung keine Berücksichtigung. Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ist nicht geboten, §§ 296a, 156 ZPO. In dem neuen Schriftsatz machen die Beklagten geltend, dass – entgegen ihres bisherigen Vortrags (vgl. S. 18 der Triplik und S. 6 f. des Schriftsatzes vom 24.03.2022) – am Ende der Schenkel des Us keine Befestigungszonen vorhanden seien. Dieser Vortrag ist jedenfalls für das nicht verwirklichte Merkmal 6 unerheblich.
  140. IV.
    Der Streitwert wird auf EUR 5.000.000,00 festgesetzt.

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