4a O 62/20 – Modifiziertes Nucleotidmolekül III

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3219

Landgericht Düsseldorf

Urteil vom 12. Mai 2022, Az. 4a O 62/20

  1. I. Die Beklagten werden verurteilt,
  2. 1. es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu € 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, im Falle mehrfacher Zuwiderhandlung bis zu insgesamt 2 Jahren, zu unterlassen,
  3. a) modifizierte Nucleotidmoleküle, umfassend eine Purin- oder Pyrimidinbase und eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3′-OH-blockierenden Gruppe, so dass an dem 3′-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur
  4. -O-Z
  5. gebunden ist,
  6. wobei es sich bei Z um eines von -C(R‘)2-N(R“)2, -C(R‘)2-N(H)R“, und -C(R‘)2-N3 handelt,
  7. wobei es sich bei jedem R“ um eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon handelt;
  8. es sich bei jedem R‘ unabhängig um ein Wasserstoffatom, eine Alkyl-, substituierte Alkyl-, Arylalkyl-, Alkenyl-, Alkinyl-, Aryl-, Heteroaryl-, heterozyklische, Acyl-, Cyano-, Alkoxy-, Aryloxy-, Heteroaryloxy- oder Amido-Gruppe oder eine durch eine verknüpfende Gruppe gebundene nachweisbare Markierung handelt; oder (R‘)2 eine Alkylidengruppe der Formel =C(R“‚)2 darstellt, wobei jeder R“‚ gleich oder unterschiedlich sein kann und aus der Gruppe ausgewählt ist, umfassend Wasserstoff- und Halogenatome und Alkylgruppen;
  9. und wobei das Molekül umgesetzt werden kann, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jeder R“ gegen H ausgetauscht ist, wobei dieses Zwischenprodukt unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3′-OH hervorzubringen;
  10. – EP 1 530 XXX B1, Anspruch 1 –
  11. in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen, oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen,
  12. b) Kits, umfassend
  13. (a) eine Vielzahl unterschiedlicher Nucleotide, wobei es sich bei der Vielzahl unterschiedlicher Nucleotide jeweils um
  14. modifizierte Nucleotidmoleküle, umfassend eine Purin- oder Pyrimidinbase und eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3′-OH-blockierenden Gruppe, so dass an dem 3′-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur
  15. -O-Z
  16. gebunden ist,
  17. wobei es sich bei Z um eines von -C(R‘)2-N(R“)2, -C(R‘)2-N(H)R“, und -C(R‘)2-N3 handelt,
  18. wobei es sich bei jedem R“ um eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon handelt;
  19. es sich bei jedem R‘ unabhängig um ein Wasserstoffatom, eine Alkyl-, substituierte Alkyl-, Arylalkyl-, Alkenyl-, Alkinyl-, Aryl-, Heteroaryl-, heterozyklische, Acyl-, Cyano-, Alkoxy-, Aryloxy-, Heteroaryloxy- oder Amido-Gruppe oder eine durch eine verknüpfende Gruppe gebundene nachweisbare Markierung handelt; oder (R‘)2 eine Alkylidengruppe der Formel =C(R“‚)2 darstellt, wobei jeder R“‚ gleich oder unterschiedlich sein kann und aus der Gruppe ausgewählt ist, umfassend Wasserstoff- und Halogenatome und Alkylgruppen;
  20. und wobei das Molekül umgesetzt werden kann, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jeder R“ gegen H ausgetauscht ist, wobei dieses Zwischenprodukt unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3′-OH hervorzubringen;
  21. wobei die Base mittels eines spaltbaren Linkers oder eines nicht spaltbaren Linkers mit einer nachweisbaren Markierung verknüpft ist;
  22. handelt, und
  23. (b) Verpackungsmaterialien dafür;
  24. – EP 1 530 XXX B1, Anspruch 25 –
  25. in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen, oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen,
  26. c) Geräte und/oder modifizierte Nucleotidmoleküle,
  27. in der Bundesrepublik Deutschland zur Benutzung in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten oder zu liefern,
  28. die geeignet sind,
  29. (1) zur Durchführung eines Verfahrens zum Kontrollieren des Einbaus eines zu einem zweiten Nucleotid in einem einzelsträngigen Ziel-Polynucleotid komplementären
  30. modifizierten Nucleotidmoleküls, umfassend eine Purin- oder Pyrimidinbase und eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3′-OH-blockierenden Gruppe, so dass an dem 3′-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur
  31. -O-Z
  32. gebunden ist,
  33. wobei es sich bei Z um eines von -C(R‘)2-N(R“)2, -C(R‘)2-N(H)R“, und -C(R‘)2-N3 handelt,
  34. wobei es sich bei jedem R“ um eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon handelt;
  35. es sich bei jedem R‘ unabhängig um ein Wasserstoffatom, eine Alkyl-, substituierte Alkyl-, Arylalkyl-, Alkenyl-, Alkinyl-, Aryl-, Heteroaryl-, heterozyklische, Acyl-, Cyano-, Alkoxy-, Aryloxy-, Heteroaryloxy- oder Amido-Gruppe oder eine durch eine verknüpfende Gruppe gebundene nachweisbare
    Markierung handelt; oder (R‘)2 eine Alkylidengruppe der Formel =C(R“‚)2 darstellt, wobei jeder R‘ gleich oder unterschiedlich sein kann und aus der Gruppe ausgewählt ist, umfassend Wasserstoff- und Halogenatome und Alkylgruppen;
  36. und wobei das Molekül umgesetzt werden kann, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jeder R“ gegen H ausgetauscht ist, wobei dieses Zwischenprodukt unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3′-OH hervorzubringen;
  37. wobei die Base mittels eines spaltbaren Linkers oder eines nicht spaltbaren Linkers mit einer nachweisbaren Markierung verknüpft ist;
  38. bei einer Synthese- oder Sequenzierreaktion,
  39. umfassend das Einbauen des Nucleotids in das wachsende komplementäre Polynucleotid, wobei der Einbau des Nucleotids die Einführung darauffolgender Nucleosid- oder Nucleotidmoleküle in das wachsende komplementäre Polynucleotid verhindert oder blockiert;
  40. – EP 1 530 XXX B1, Anspruch 12 –
  41. und/oder
  42. (2) zur Durchführung eines Verfahrens zum Bestimmen der Sequenz eines einzelsträngigen Ziel-Polynucleotids, umfassend das Überwachen des aufeinanderfolgenden Einbaus komplementärer Nucleotide, wobei es sich bei mindestens einem Einbau um den eines
  43. modifizierten Nucleotidmoleküls, umfassend eine Purin- oder Pyrimidinbase und eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3′-OH-blockierenden Gruppe, so dass an dem 3′-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur
  44. -O-Z
  45. gebunden ist,
  46. wobei es sich bei Z um eines von -C(R‘)2-N(R“)2, -C(R‘)2-N(H)R“, und -C(R‘)2-N3 handelt,
  47. wobei es sich bei jedem R“ um eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon handelt;
  48. es sich bei jedem R‘ unabhängig um ein Wasserstoffatom, eine Alkyl-, substituierte Alkyl-, Arylalkyl-, Alkenyl-, Alkinyl-, Aryl-, Heteroaryl-, heterozyklische, Acyl-, Cyano-, Alkoxy-, Aryloxy-, Heteroaryloxy- oder Amido-Gruppe oder eine durch eine verknüpfende Gruppe gebundene nachweisbare
    Markierung handelt; oder (R‘)2 eine Alkylidengruppe der Formel =C(R“‚)2 darstellt, wobei jeder R“‚ gleich oder unterschiedlich sein kann und aus der Gruppe ausgewählt ist, umfassend Wasserstoff- und Halogenatome und Alkylgruppen;
  49. und wobei das Molekül umgesetzt werden kann, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jeder R“ gegen H ausgetauscht ist, wobei dieses Zwischenprodukt unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3′-OH hervorzubringen;
  50. wobei die Base mittels eines spaltbaren Linkers oder eines nicht spaltbaren Linkers mit einer nachweisbaren Markierung verknüpft ist;
  51. handelt und wobei die Identität des eingebauten Nucleotids durch Nachweisen der mit der Base verknüpften Markierung bestimmt wird und die blockierende Gruppe und die Markierung vor der Einführung des nächsten komplementären Nucleotids entfernt werden;
  52. – EP 1 530 XXX B1, Anspruch 17 –
  53. und/oder
  54. (3) zur Herstellung eines Oligonucleotids, umfassend ein modifiziertes Nucleotid, umfassend eine Purin- oder Pyrimidinbase und eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3′-OH-blockierenden Gruppe, so dass an dem 3′-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur
  55. -O-Z
  56. gebunden ist,
  57. wobei es sich bei Z um eines von -C(R‘)2-N(R“)2, -C(R‘)2-N(H)R“, und -C(R‘)2-N3 handelt,
  58. wobei es sich bei jedem R“ um eine entfernbare Schutzgruppe
    oder einen Teil davon handelt;
  59. es sich bei jedem R‘ unabhängig um ein Wasserstoffatom, eine Alkyl-, substituierte Alkyl-, Arylalkyl-, Alkenyl-, Alkinyl-, Aryl-, Heteroaryl-, heterozyklische, Acyl-, Cyano-, Alkoxy-, Aryloxy-, Heteroaryloxy- oder Amido-Gruppe oder eine durch eine verknüpfende Gruppe gebundene nachweisbare Markierung handelt; oder (R‘)2 eine Alkylidengruppe der Formel =C(R“‚)2 darstellt, wobei jeder R‘ gleich oder unterschiedlich sein kann und aus der Gruppe ausgewählt ist, umfassend Wasserstoff- und Halogenatome und Alkylgruppen;
  60. und wobei das Molekül umgesetzt werden kann, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jeder R‘‘ gegen H ausgetauscht ist, wobei dieses Zwischenprodukt unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3′-OH hervorzubringen;
  61. – EP 1 530 XXX B1, Anspruch 29 –
  62. 2. der Klägerin unter Vorlage eines einheitlichen, geordneten, elektronischen Verzeichnisses vollständig darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang die Beklagten die zu Ziffer I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 13.03.2013 begangen haben, und zwar unter Angabe
  63. a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
  64. b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
  65. c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,
  66. wobei die Beklagten Rechnungen und für den Fall, dass keine Rechnungen vorhanden sind, Lieferscheine vorzulegen haben, wobei die Vorlage von Kopien ausreichend ist und geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
  67. 3. der Klägerin unter Vorlage eines einheitlichen, geordneten, elektronischen Verzeichnisses vollständig darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie die zu Ziffer I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 13.04.2013 begangen haben, und zwar unter Angabe
  68. a) der einzelnen Lieferungen und Bestellungen, aufgeschlüsselt nach Typenbezeichnungen, Liefer- und Bestellmengen, -zeiten und -preisen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer und der Verkaufsstellen, für welche die Erzeugnisse bestimmt waren,
  69. b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Typenbezeichnungen, Angebotsmengen, -zeiten und -preisen sowie der Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
  70. c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Herstellungs- und Verbreitungsauflage, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
  71. d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns;
  72. wobei den Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften
    ihrer nicht-gewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von dieser zu bezeichnenden, dieser gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, vereidigten und in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten die durch dessen Einschaltung entstehenden Kosten übernehmen und ihn ermächtigen, der Klägerin auf Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter nicht-gewerblicher Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Rechnungslegung enthalten ist;
  73. 4. die vorstehend zu Ziffern I.1 a) und b) bezeichneten, seit dem 13.04.2013 im Besitz Dritter befindlichen Erzeugnisse aus den Vertriebswegen zurückzurufen, indem diejenigen gewerblichen Abnehmer, denen durch die Beklagten oder mit deren Zustimmung Besitz an den Erzeugnissen eingeräumt wurde, unter Hinweis darauf, dass das Gericht mit dem hiesigen Urteil auf eine Verletzung des Klagepatents EP 1 530 XXX B1 erkannt hat, aufgefordert werden, die Erzeugnisse an die Beklagten zurückzugeben und ihnen für den Fall der Rückgabe der Erzeugnisse eine Rückzahlung des gegebenenfalls bereits gezahlten Kaufpreises sowie die Übernahme der Kosten der Rückgabe verbindlich zugesagt wird;
  74. II. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die unter Ziffer I.1 bezeichneten, seit dem 13.04.2013 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
  75. III. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin EUR 8.503,40 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.11.2020 zu zahlen.
  76. IV. Die Beklagte zu 2) wird verurteilt, an die Klägerin EUR 8.503,40 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.12.2020 zu zahlen.
  77. V. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten.
  78. VI. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von EUR 2.500.000,00. Daneben sind die Ansprüche auf Unterlassung und Rückruf (Ziffern I.1. und I.4. des Tenors) zusammen gesondert vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von EUR 1.500.000,00. Weiterhin sind die Ansprüche auf Auskunft und Rechnungslegung (Ziffern I.2. und I.3. des Tenors) zusammen gesondert vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von EUR 250.000,00. Schließlich ist das Urteil in den Ziffern III. und IV. des Tenors sowie im Kostenpunkt jeweils vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
  79. Tatbestand
  80. Die Klägerin nimmt die Beklagten aus dem deutschen Teil des europäischen Patents EP 1 530 XXX (nachfolgend: Klagepatent, vorgelegt mit Übersetzung in Anlage rop 1 bzw. rop 1a) wegen behaupteter unmittelbarer und mittelbarer Patentverletzung auf Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung, Rückruf, Feststellung der Verpflichtung zum Leisten von Schadensersatz und Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Anspruch.
  81. Die Klägerin ist die im Register des Deutschen Patent- und Markenamts (vgl. den Registerauszug in Anlage rop 2) eingetragene Inhaberin des Klagepatents, das am 22.08.2003 unter Inanspruchnahme der Prioritäten der US XXX vom 23.08.2002, der GB XXX vom 23.12.2002 sowie der GB XXX vom 20.03.2003 in englischer Verfahrenssprache angemeldet wurde. Der Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents wurde am 13.03.2013 veröffentlicht.
  82. Das Klagepatent steht in Kraft. Es war bereits Gegenstand eines Einspruchsverfahrens und wurde dort erstinstanzlich aufrechterhalten. Mit der Rücknahme der Beschwerde durch die dortige Einsprechende ist die Entscheidung der Einspruchsabteilung rechtskräftig geworden. Eine von der A, eine Gesellschaft aus dem Konzern der Beklagten, erhobene Nichtigkeitsklage wies das Bundespatentgericht mit Urteil vom 14.09.2021 ab (Anlage B 16; nachfolgend kurz als BPatGU zitiert). Die A legte hiergegen (Nichtigkeits-) Berufung ein (Az. X ZR 5/22). Eine Berufungsbegründung wurde bislang nicht eingereicht.
  83. Das Klagepatent trägt die Bezeichnung „XXX“ („Modifizierte Nucleotide für Polynucleotidsequenzierung“). Die geltend gemachten Patentansprüche 1, 6, 12, 17, 25 und 29 lautet in der englischen Verfahrenssprache des Klagepatents wie folgt:
  84. „1. A modified nucleotide molecule comprising a purine or pyrimidine base and a ribose or deoxyribose sugar moiety having a removable 3′-OH blocking group covalently attached thereto, such that the 3′ carbon atom has attached a group of the structure
  85. -O-Z
  86. wherein Z is any of -C(R‘)2-N(R“)2 ‚C(R‘)2-N(H)R“, and -C(R‘)2-N3,
  87. wherein each R“ is or is part of a removable protecting group;
    each R‘ is independently a hydrogen atom, an alkyl, substituted alkyl, arylalkyl, alkenyl, alkynyl, aryl, heteroaryl, heterocyclic, acyl, cyano, alkoxy, aryloxy, heteroaryloxy or amido group, or a detectable label attached through a linking group; or (R‘)2 represents an alkylidene group of formula =C(R“‘)2 wherein each R“‘ may be the same or different and is selected from the group comprising hydrogen and halogen atoms and alkyl groups; and

    wherein said molecule may be reacted to yield an intermediate in which each R“ is exchanged for H, which intermediate dissociates under aqueous conditions to afford a molecule with a free 3’OH.“

  88. „6. A molecule according to any preceding claim wherein said base is linked to a detectable label via a cleavable linker or a non-cleavable linker.“
  89. „12. A method of controlling the incorporation of a nucleotide as defined in any one of claims 6 to 10 and complementary to a second nucleotide in a target single-stranded polynucleotide in a synthesis or sequencing reaction comprising incorporating into the growing complementary polynucleotide said nucleotide, the incorporation of said nucleotide preventing or blocking introduction of subsequent nucleoside or nucleotide molecules into said growing complementary polynucleotide.“
  90. „17. A method for determining the sequence of a target single-stranded polynucleotide, comprising monitoring the sequential incorporation of complementary nucleotides, wherein at least one incorporation is of a nucleotide as defined in any one of claims 6 to 10 and wherein the identity of the nucleotide incorporated is determined by detecting the label linked to the base, and the blocking group and said label are removed prior to introduction of the next complementary nucleotide.“
  91. „25. A kit, comprising:
  92. (a) a plurality of different nucleotides wherein said plurality of different nucleotides are either as defined in any one of claims 6 to 10; and
    (b) packaging materials therefor.“
  93. „29. An oligonucleotide comprising a modified nucleotide of claims 1-11.“
  94. In der eingetragenen deutschen Fassung lauten diese Patentansprüche wie folgt:
  95. „1. Modifiziertes Nucleotidmolekül, umfassend eine Purin- oder Pyrimidinbase und eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3’-OH-blockierenden Gruppe, so dass an dem 3’-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur
  96. -O-Z
  97. gebunden ist,
  98. wobei es sich bei Z um eines von -C(R’)2-N(R“)2, -C(R’)2-N(H)R“, und -C(R’)2-N3 handelt,
    wobei es sich bei jedem R“ um eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon handelt;
  99. es sich bei jedem R’ unabhängig um ein Wasserstoffatom, eine Alkyl-, substituierte Alkyl-, Arylalkyl-, Alkenyl-, Alkinyl-, Aryl-, Heteroaryl-, heterozyklische, Acyl-, Cyano-, Alkoxy-, Aryloxy-, Heteroaryloxy- oder Amido-Gruppe oder eine durch eine verknüpfende Gruppe gebundene nachweisbare Markierung handelt; oder (R’)2 eine Alkylidengruppe der Formel =C(R’“)2 darstellt, wobei jeder R’“ gleich oder unterschiedlich sein kann und aus der Gruppe ausgewählt ist, umfassend Wasserstoff- und Halogenatome und Alkylgruppen; und
  100. wobei das Molekül umgesetzt werden kann, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jeder R“ gegen H ausgetauscht ist, wobei dieses Zwischenprodukt unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3’-OH zu hervorzubringen.“
  101. „6. Molekül gemäß einem der vorhergehenden Ansprüche, wobei die Base mittels eines spaltbaren Linkers oder eines nicht spaltbaren Linkers mit einer nachweisbaren Markierung verknüpft ist.“
  102. „12. Verfahren zum Kontrollieren des Einbaus eines wie in einem der Ansprüche 6 bis 10 definierten und zu einem zweiten Nucleotid in einem einzelsträngigen Ziel-Polynucleotid komplementären Nucleotids bei einer Synthese- oder Sequenzierreaktion, umfassend das Einbauen des Nucleotids in das wachsende komplementäre Polynucleotid, wobei der Einbau des Nucleotids die Einführung darauffolgender Nucleosid- oder Nucleotidmoleküle in das wachsende komplementäre Polynucleotid verhindert oder blockiert.“
  103. „25. Kit, umfassend
  104. (a) eine Vielzahl unterschiedlicher Nucleotide, wobei es sich bei der Vielzahl unterschiedlicher Nucleotide jeweils um die in einem der Ansprüche 6 bis 10 definierten handelt, und
  105. (b) Verpackungsmaterialien dafür.“
  106. „29. Oligonucleotid, umfassend ein modifiziertes Nucleotid nach den Ansprüchen 1 – 11.“
  107. Hinsichtlich der nur als Insbesondere-Anträge geltend gemachten, abhängigen Unteransprüche 4, 7, 9, 19, 26 und 27 wird auf die Klagepatentschrift verwiesen.
  108. Die Klägerin machte das Klagepatent gegen zwei Konzerngesellschaften in einem Patentverletzungsverfahren vor dem Landgericht Düsseldorf geltend (Az. 4a O 31/19). Hierin sah die Kammer mit Urteil vom 03.11.2020 (Anlage rop 14) eine Verletzung des Klagepatents als gegeben an. Das Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte das Urteil der Kammer im Hinblick auf die Verletzungsfrage (Urteil vom 30.09.2021 – I-2 U 52/20; vorgelegt in Anlage rop 15).
  109. Die Klägerin ist eine Gesellschaft des US-amerikanischen Konzerns B. Die Beklagten sind Gesellschaften mit Sitz in XXX und gehören der … C-Gruppe an.
  110. Zum Sortiment des Konzerns der Beklagten gehört als „D“ genannte Sequenzierungschemie, die in Kits mit Bezeichnungen wie „E“ (ehemals „XXX“ genannt) (angegriffenen Ausführungsform II) vertrieben wird. Die angegriffene Ausführungsform II enthält Kits, die wiederum unter anderem Mischungen aus Nucleotiden mit den Bezeichnungen „XXX“, „YYY“, „ZZZ“ und/oder „CCC“ enthalten (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform I). Weiterhin vertreibt der Konzern der Beklagten Sequenzierungschemie unter der Bezeichnung „F“, die ebenfalls Nucleotide des „G“ enthalten. In der F-Reihe weisen die Nucleotide (im Gegensatz zur D-Reihe) jeweils keine Markierung auf.
  111. Ferner vertreibt der Konzern der Beklagten Sequenziergeräte wie z.B. die Geräte mit der Bezeichnung „H“ oder „I“ (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform III), mit denen die Sequenzierung von DNA durch Synthese (X-Reaktion) mit Hilfe der D- oder der F-Sequenzierungschemie des Beklagtenkonzerns durchgeführt werden kann.
  112. Die Beklagte zu 1) belieferte die (…) u.a. mit dem „…“, also mit der angegriffenen Ausführungsform II, und mit einer angegriffene Ausführungsform III (in Form eines Sequenziergeräts I).
  113. Die Beklagte zu 2) lieferte eine angegriffene Ausführungsform III (Gerät: „H“) und damit zu verwendende angegriffene Ausführungsformen II (Reagenzien vom Typ „…“) an die Universität XXX.
  114. Die Klägerin mahnte vorgerichtlich die Beklagte zu 1) mit Schreiben vom 23.06.2020 und die Beklagte zu 2) mit Schreiben vom 31.03.2020 aus dem Klagepatent erfolglos ab (vgl. Anlagen rop 10 – 13).
  115. Die Klägerin meint, die Beklagten verletzten mit dem Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen das Klagepatent unmittelbar und mittelbar wortsinngemäß.
  116. Die angegriffenen modifizierten Nucleotidmolekühle mit einer Azidomethyl-Blockiergruppe am 3‘-Kohlenstoffatom des Zuckers verwirklichten die Lehre von Anspruch 1 des Klagepatents. Insbesondere verwirkliche die Azidomethylgruppe sowohl die erste Variante des Klagepatentanspruchs für „Z“, wobei R‘ jeweils ein Wasserstoffatom (H) ist und es sich bei jedem R‘‘ um ein Stickstoffatom (N) handelt. Gleichermaßen verwirkliche die Azidomethylgruppe auch die dritte Variante des Anspruchs für „Z“, wobei jedes R‘ ein Wasserstoffatom (H) sei. Der dritte Fall sei ein Spezialfall des ersten Falls, nämlich derjenige, bei dem die beiden R‘‘ ein Stickstoffatom (N) seien. Daraus ergebe sich auch die Verwirklichung der übrigen Merkmale des Anspruchs, da die Azidomethylgruppe derart umgesetzt werden könne, dass jedes R‘‘ (also Stickstoffatom N) gegen H ausgetauscht werde. Diese Zwischenprodukt dissoziiere unter wässrigen Bedingungen, um ein Molekül mit einem freien 3‘-OH hervorzubringen. Dies ergebe sich für den Fachmann unmittelbar aus Abs. [0058] der Klagepatentbeschreibung.
  117. Es sei insofern unerheblich, ob die Beklagten „F“-Sequenzierungschemie in Deutschland angeboten oder vertrieben hätten. Die F-Technologie verwende die gleichen „G“ wie die D-Sequenzierungschemie, die unstreitig in Deutschland vertrieben worden sei.
  118. Bei Verwendung der angegriffenen Ausführungsformen würden unweigerlich Oligonucleotide im Sinne von Anspruch 29 des Klagepatents entstehen.
  119. Bezüglich der Sequenzierungsgeräte sei ein Schlechthinverbot gerechtfertigt. Es bestehe keine patentfreie Nutzungsmöglichkeit mit der F-Technologie, da hierzu modifizierte Nucleotide erforderlich wären, die ihrerseits von Anspruch 1 des Klagepatents Gebrauch machten. Eine andere, patentfreie Nutzungsmöglichkeit sei nicht gegeben und von der Klägerin auch nicht in einem britischen Parallelverfahren bestätigt worden.
  120. Die Klägerin könne auch die Erstattung für beide Abmahnungen in voller Höhe verlangen, da insoweit keine einheitliche rechtsanwaltliche Angelegenheit vorgelegen habe.
  121. Schließlich sei das Verfahren nicht in Bezug auf das Nichtigkeitsberufungsverfahren auszusetzen, da das Klagepatent rechtsbeständig sei. Dessen Rechtsbestand werde durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung und des Bundespatentgerichts belegt.
  122. Die Klägerin beantragt – nachdem sie den Vernichtungsantrag in der mündlichen Verhandlung vom 22.03.2022 zurückgenommen hat – zuletzt,
  123. – wie erkannt –
  124. Hinsichtlich der gestellten Insbesondere-Anträge wird auf die Klageschrift verwiesen.
  125. Die Beklagten beantragen,
  126. die Klage abzuweisen;
  127. hilfsweise:
    die Verhandlung des Rechtsstreits bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die gegen das Klagepatent EP 1 530 XXX beim Bundesgerichtshof in der Nichtigkeitsberufung anhängigen Nichtigkeitsklage (X ZR 5/22) auszusetzen.
  128. Die Beklagten meinen, die geltend gemachten Ansprüche stünden der Klägerin nicht zu. Die Klägerin habe die Patentverletzung nicht schlüssig dargelegt. Anspruch 1 beanspruche für Z drei unterschiedliche, voneinander unabhängige chemische Strukturen, die in einem Alternativverhältnis zueinander ständen. Im dritten Fall komme ein R‘‘ anspruchsgemäß gar nicht vor. Das anspruchsgemäße Umsetzen eines Moleküls zu einem Zwischenprodukt erfolge klagepatentgemäß durch den Austausch jedes R‘‘ gegen H. Hierdurch werde das Molekül (Schutzgruppe) abgetrennt und der Anbau weiterer Nucleotide ermöglicht. Anspruchsgemäß müsse die Struktur des Moleküls daher stofflich dazu geeignet sein, durch den Austausch von R‘‘ gegen H ein Zwischenprodukt zu ergeben. Azidomethyl lasse sich nicht unter die Formel –N(R‘‘)2 subsumieren, so dass auch kein R‘‘ durch ein H ausgetauscht werden könne.
  129. Die angegriffene Ausführungsform I stelle keine Nucleotide mit einer R‘‘-Schutzgruppe dar, da es an einem Rest R‘‘ fehle, so dass diese für eine anspruchsgemäße Umsetzung nicht geeignet seien. Sie enthielten insbesondere kein R‘‘, das während der Entschützung gegen H ausgetauscht werde, so dass ein Zwischenprodukt entstehe, das unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit freien 3‘-OH zu ergeben.
  130. Der Verletzungsvortrag zur Produktreihe „F“ sei unschlüssig, da keine Benutzungshandlungen in Deutschland dargelegt würden. Festzuhalten sei, dass sich die Reagenzien der Reihe D und F erheblich voneinander unterschieden. Das in den Reagenzien F verwendete Nucleotid habe keinen Linker und keine Markierungen. Diese fielen daher nicht in den Schutzbereich der Ansprüche 12, 17, 19 und 25 bis 27 des Klagepatents, da diese auf Unteranspruch 6 zurückbezogen seien.
  131. Anspruch 29 werde nicht verletzt, da die Kits keine Oligonucleotide enthielten.
  132. Die Klägerin könne nicht die Erstattung der Kosten für beide Abmahnungen gegenüber den Beklagten verlangen, da es sich insoweit nur um eine Angelegenheit der rechtsanwaltlichen Tätigkeit gehandelt habe.
  133. Ein Schlechthin-Verbot für die angegriffenen Ausführungsform III sei nicht auszusprechen, da die Produkte der F-Reihe die Ansprüche 12 und 17 nicht verletzten. Im XXX habe die Klägerin bestätigt, dass eine alternative Blockiergruppe von XXX das Klagepatent nicht verletze. Zudem entwickele die Unternehmensgruppe der Beklagten neue, patentfreie Nucleotide für die angegriffenen Ausführungsform III.
  134. Jedenfalls sei das Verfahren auszusetzen, da das Klagepatent nicht rechtsbeständig sei. Die Entscheidung des Bundespatentgerichts sei fehlerhaft und werde vom Bundesgerichtshof im Nichtigkeitsberufungsverfahren revidiert werden.
  135. Das Gericht hat den Parteien und den Prozessbevollmächtigten von Amts wegen gestattet, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen über den von der Justiz des Landes NRW zur Verfügung gestellten Virtuellen Meetingraum (VMR) vorzunehmen. Davon haben die Prozessbevollmächtigten Gebrauch gemacht.
  136. Für die Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die ausgetauschten Schriftsätze samt Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
  137. Entscheidungsgründe
  138. Die zulässige Klage ist begründet. Die Beklagten verletzen mit dem Angebot und dem Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen in der Bundesrepublik Deutschland das Klagepatent unmittelbarer (angegriffene Ausführungsformen I und II) und mittelbar (angegriffene Ausführungsformen III) wortsinngemäß. Aus diesem Grunde stehen der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche auf Unterlassung, Auskunftserteilung und Rechnungslegung, Rückruf, Schadenersatz und Zahlung vorgerichtlicher Anwaltsgebühren aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. §§ 139 Abs. 1 und 2, 140a Abs. 3, 140b Abs. 1 und 3 PatG i.V.m. §§ 242, 259 BGB gegen die Beklagten zu. Im Rahmen des der Kammer nach § 148 ZPO zustehenden Ermessens wird die Verhandlung des Rechtsstreits nicht im Hinblick auf die gegen die in der Nichtigkeitsberufung anhängige Nichtigkeitsklage gegen das Klagepatent ausgesetzt.
  139. I.
    Die Beklagten verletzen die geltend gemachten Ansprüche des Klagepatents mittelbar und unmittelbar wortsinngemäß.
  140. 1.
    Das Klagepatent, dem die nachfolgend ohne Quellenangabe zitierten Absätze entstammen, betrifft insbesondere Nucleotide mit einer entfernbaren Schutzgruppe, ihre Verwendung in Polynucleotid-Sequenzierungsverfahren und ein Verfahren für die chemische Entschützung der Schutzgruppe (Abs. [0001]).
  141. a)
    Bei der Sequenzierung durch eine Synthese (Sequencing by Synthesis, SBS) von DNA bedarf es eines kontrollierten Einbaus neuer Nucleotide in den Komplementärstrang, so dass in jedem Synthesezyklus genau ein zusätzliches Nucleotid in den Strang integriert wird, um es anschließend zu detektieren. Um sicherzustellen, dass nur genau ein Nucleotid pro Synthesezyklus eingebaut wird, werden die einzubauenden Nucleotide modifiziert: Sie erhalten eine sogenannte „Blockiergruppe“ am dritten Kohlenstoffatom des Zuckers, die „3‘-OH-Blockiergruppe“. Diese Gruppe muss die Polymerase daran hindern, ein weiteres Nucleotid an dieses dritte Kohlenstoffatom anzulagern (Abs. [0004] f.).
  142. Die Anforderungen an eine 3‘-OH-Blockiergruppe für die Nutzung in SBS-Verfahren sind hoch. Zunächst sollte sie die Inkorporation weiterer Nucleotide in die Polynucleotidkette zuverlässig verhindern. Zudem sollte sie einfach zu entfernen sein, ohne dass dabei die Polynucleotidkette beschädigt wird. Des Weiteren sollte die Blockiergruppe derart beschaffen sein, dass das modifizierte Nucleotid trotz der vorhandenen Blockiergruppe von der Polymerase verarbeitet, d.h. an das Polynucleotid angebaut werden kann (Abs. [0005]).
  143. Im Stand der Technik waren im Prioritätstag 3‘-OH-Blockiergruppen bekannt, wobei für Einzelheiten auf Abs. [0006] bis [0012] der Klagepatentschrift Bezug genommen wird. Keine dieser Blockiergruppen erfüllte jedoch die vorstehend beschriebenen Anforderungen.
  144. Das Klagepatent hat es sich vor diesem Hintergrund zur – nicht ausdrücklich formulierten – Aufgabe gemacht, ein Nucleotid mit einer entfernbaren 3‘-OH-Blockiergruppe bereitzustellen, die unter DNA-kompatiblen Bedingungen entfernt werden kann. Außerdem sollen (SBS-) Verfahren bereitgestellt werden, die solche Nucleotide nutzen (Abs. [0013]; vgl. S. 11 BPatGU (Anlage B16)).
  145. b)
    Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt Patentanspruch 1 des Klagepatents ein modifiziertes Nucleotidmolekül mit folgenden Merkmalen vor:
  146. 1 Modifiziertes Nucleotidmolekül, umfassend
  147. 1.1 eine Purin- oder Pyrimidinbase und
  148. 1.2 eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit
  149. 1.3 mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3’-OH-blockierenden Gruppe, so dass an dem 3’-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur -O-Z gebunden ist.
  150. 1.3.1 Bei Z handelt es sich um eines von
    -C(R’)2-N(R“)2,
    -C(R’)2-N(H)R“, und
    -C(R’)2-N3.
  151. 1.3.1.1 Bei jedem R“ handelt es sich um eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon.
  152. 1.3.1.2 Bei jedem R’ handelt es sich unabhängig um ein Wasserstoffatom, eine Alkyl-, substituierte Alkyl-, Arylalkyl-, Alkenyl-, Alkinyl-, Aryl-, Heteroaryl-, heterozyklische, Acyl-, Cyano-, Alkoxy-, Aryloxy-, Heteroaryloxy- oder Amido-Gruppe oder eine durch eine verknüpfende Gruppe gebundene nachweisbare Markierung.

    oder

  153. 1.3.1.3 (R’)2 stellt eine Alkylidengruppe der Formel =C(R’“)2 dar, wobei jeder R’“ gleich oder unterschiedlich sein kann und aus der Gruppe ausgewählt ist, umfassend Wasserstoff- und Halogenatome und Alkylgruppen.
  154. 1.3.2 Das Molekül kann umgesetzt werden, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jeder R“ gegen H ausgetauscht ist.
  155. 1.3.2.1 Dieses Zwischenprodukt dissoziiert unter wässrigen Bedingungen, um ein Molekül mit einem freien 3’-OH hervorzubringen.
  156. c)
    Den Kern der Erfindung bildet die an dem 3‘-Kohlenstoffatom gebundene 3‘-OH-blockierende Gruppe, die erfindungsgemäß eine Struktur -O-Z aufweist. Die beanspruchte Gruppe der Struktur -O-Z- gewährleistet allgemein, dass zum Beispiel bei Sequenzierungsreaktionen in einem Synthesezyklus die Polymerase davon abgehalten wird, mehr als ein einzelnes Nucleotid in die Polynucleotidkette einzubauen, in dem sie die 3´er OH-Gruppe blockiert (vgl. Abs. [0026], [0049]). Hierbei stellt „Z“ eine Variable dar, für die Merkmal 1.3.1 drei verschiedene Varianten vorsieht. Hiernach kann es sich bei Z entweder um -C(R’)2-N(R“)2, oder um -C(R’)2-N(H)R“ oder um -C(R’)2-N3 handeln.
  157. Während die beiden erstgenannten Formeln jeweils zwei weitere Variablen (namentlich: R‘, R‘‘) aufweisen, findet sich in Letzterer mit R‘ nur eine Variable. Damit ist klar, dass Merkmal 1.3.1.1, welches sich näher mit der Variablen R‘‘ befasst und bestimmt, dass es sich dabei um eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon handeln soll, ausschließlich für die beiden erstgenannten Varianten Bedeutung besitzt. Mit anderen Worten: Die Variable R‘‘ steht dort, wo sie vorhanden ist, für eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon. Die dagegen für alle der drei Varianten von Z relevante Variable R‘ wird demgegenüber in Merkmal 1.3.1.2 näher konkretisiert. Hiernach kann es bei R‘ unter anderem um Wasserstoff (H) handeln (vgl. auch Abs. [0056]). Merkmal 1.3.1.3 ist ein Alternativmerkmal zu Merkmal 1.3.1.2, das aber für den vorliegenden Rechtsstreit keine weitere Bedeutung hat.
  158. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Variante 3 des Merkmals 1.3.1 (d.h. -C(R’)2-N3)) einen Spezialfall der Variante 1 (d.h. -C(R’)2-N(R“)2) ist, wenn nämlich die entfernbare Schutzgruppe gemäß Merkmal 1.3.1.1 R‘‘ ein Stickstoffatom (N) ist.
  159. Merkmal 1.3.2 verlangt, dass das Molekül umgesetzt werden kann, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jedes R‘‘ gegen H (Wasserstoff) ausgetauscht ist. Dieses Zwischenprodukt dissoziiert erfindungsgemäß unter wässrigen Bedingungen, um ein Molekül mit einem freien 3‘-OH hervorzubringen (Merkmal 1.3.2.1). Die Merkmalsgruppe 1.3.2. umschreibt somit einen Mechanismus zur Entfernung der Schutzgruppe. Nach der Entschützung ist die blockierende Gruppe nicht mehr an das 3´er Ende der Zuckereinheit gebunden und es ist nunmehr möglich, ein anderes Nucleotid in die freie 3´-OH-Gruppe einzubauen (vgl. Abs. [0028]). Die schonende Entfernung wird durch die Eigenschaft der Stoffgruppe bedingt, normalerweise unter wässrigen Bedingungen zu hydrolysieren (vgl. Abs. [0017]).
  160. d)
    Eine von der Variable Z erfasste Verbindung ist Azidomethyl, wie der von Anspruch 1 abhängige Unteranspruch 4 ausdrücklich spezifiziert. Eine solche Azidomethylgruppe weist die Formel -CH2-N3 auf. Es handelt sich dementsprechend um einen Spezialfall der Variante 3 von Merkmal 1.3.1 (-C(R’)2-N3), bei der R‘ ein Wasserstoffatom (H) ist.
  161. Dass ein mit einer 3‘-O-Azidomethylgruppe geschütztes modifiziertes Nucleotid in der Weise umgesetzt werden kann, dass zunächst ein Zwischenprodukt entsteht, bei dem jedes der beiden R‘‘ = N gegen ein H ausgetauscht ist, bestreiten die Beklagten nicht. Dieses Zwischenprodukt hat die Struktur 3‘-O-CH2-N2 und dissoziiert unter wässrigen Bedingungen, um ein Molekül mit einem freien 3‘-OH hervorzubringen. Mehr verlangt die Merkmalsgruppe 1.3.2 nicht.
  162. Soweit sich die Beklagten demgegenüber darauf berufen, im Fall der Azidomethylgruppe liege anstatt des R“ N3 vor, so dass R‘‘ mangels Existenz nicht ausgetauscht werden könne, lässt sich dies bereits nicht mit der im Einzelnen erläuterten Struktur des Patentanspruchs in Einklang bringen. Denn R‘‘ kann auch ein Stickstoffatom (N) sein, was von der Formel -C(R’)2-N(R“)2 zu -C(R’)2-N3 führt. Gleiches ergibt sich aus Absatz [0058], wo es heißt:
  163. „Ein Beispiel von Gruppen mit der Struktur -O-Z wobei Z -C(R´)2-N(R´´)2 ist, sind diejenigen Gruppen, bei denen – N(R´´)2 Azido (-N3) ist. Ein bevorzugtes derartiges Beispiel ist Azido-Methyl, wobei jeder R´ H ist. […]“
  164. Diese Auslegung entspricht auch der fachkundigen Auffassung des Bundespatentgerichts. Dieses führt auf S. 15 BPatGU aus, dass Azidomethyl als Z vom Klagepatent erfasst wird:
  165. „Allerdings stellt Absatz [0117] [des Klagepatents] mit dem darüber gesetzten Titel im Streitpatent klar, dass auch die Azidomethylgruppe die geschützte Form eines unter wässrigen Bedingungen dissoziierenden Hemiaminals als Zwischenprodukt darstellt (3′-OH protected with an azidomethyl group as a protected form of a hemiaminal), ebenso wie die anderen geschützten Gruppen -C(R‘)2-N(R“)2 (NiK1 Fig. 3). Daher kann auch der an der fachlichen Lehre der NiK1 vorbeigehenden Einwand der Klägerin, dass die Merkmale 2.1a, 2.1b und 2.1c [= hiesige Merkmale 1.3.1.1, 1.3.2, 1.3.2.1] vom Azidomethylrest nicht erfüllt würden und dieses insoweit fakultativ keinen festen Bestandteil der technischen Lehre bilde, nicht überzeugen.“ (Ergänzungen in eckigen Klammern vom Gericht hinzugefügt)
  166. 2.
    Die angegriffenen Ausführungsformen verwirklichen Patentanspruch 1 (hierzu unter a)) und – soweit die D-Reihe betroffen ist – auch Patentanspruch 25 wortsinngemäß (hierzu unter b)). Durch die von den Beklagten in Bezug auf die angegriffenen Ausführungsformen vorgenommenen Benutzungshandlungen verletzen sie das Klagepatent unmittelbar (hierzu unter c)).
  167. a)
    Die obigen Gedanken zum Verständnis des Klagepatents vorausgeschickt, verwirklichen die angegriffenen Ausführungsformen I und II Anspruch 1 des Klagepatents unmittelbar wortsinngemäß. Die Beklagten haben eine Verwirklichung des alleine streitigen Merkmals 1.3.2 nicht erheblich in Abrede gestellt.
  168. Unstreitig handelt es sich bei den angegriffenen Ausführungsformen I, die sich auch in den angegriffenen Ausführungsformen II (Kits) befinden, um modifizierte Nucleotidmoleküle, die am dritten Kohlenstoff-Atom (C) des Zuckers eine Azidomethylgruppe aufweisen und damit von Anspruch 1 erfasst werden. Die Ausgestaltung mit einer Azidomethylgruppe entspricht der Lehre des von Patentanspruch 1 abhängigen Unteranspruchs 4.
  169. Soweit die Beklagten anführen, es beständen zwischen den Nucleotiden der Reihe D und F Unterschiede, sind diese für die Verwirklichung von Anspruch 1 nicht relevant. Die bei den F-Nucleotiden nicht vorhandene Markierung wird nicht von Patentanspruch 1 verlangt, sondern ist nur für Unteranspruch 6 und die hierauf bezugnehmenden Ansprüche relevant.
  170. Die Verwirklichung der übrigen Merkmale von Anspruch 1 durch die angegriffene Ausführungsformen II haben die Beklagten zutreffend nicht in Abrede gestellt, so dass weitere Ausführungen hierzu entbehrlich sind.
  171. b)
    Die angegriffenen Ausführungsformen II, soweit hierin nicht Nucleotide der F-Reihe vorhanden sind, verwirklichen auch Anspruch 25 des Klagepatents unmittelbar wortsinngemäß.
  172. aa)
    Patentanspruch 25 beansprucht Kits, die aus einer Vielzahl unterschiedlicher Nucleotide gemäß den Ansprüchen 6 bis 10 und Verpackungsmaterialien dafür bestehen. Patentanspruch 6 ist wiederum auf Anspruch 1 (aber auch Unteranspruch 4) zurückbezogen und verlangt, dass bei dem in Anspruch 1 gelehrten Nucleotid die Base mittels eines spaltbaren Linkers oder eines nicht spaltbaren Linkers mit einer nachweisbaren Markierung verknüpft ist. Die Markierung ermöglicht – etwa im Rahmen des SBS-Verfahren – die Bestimmung des jeweils eingebauten Nucleotids und damit des zu untersuchenden DNA-Strangs.
  173. bb)
    Die angegriffenen Ausführungsformen II verwirklichen damit Anspruch 25, soweit sie D-Nucleotide enthalten. Die Beklagten haben nicht in Abrede gestellt, dass diese Nucleotide Markierungen aufweisen und damit neben den Ansprüchen 1 und 4 – anders als die Nucleotide der F-Reihe – auch Unteranspruch 6 erfüllen. Auch das Vorhandensein von Verpackungsmaterial bei den angegriffenen Ausführungsformen II steht zwischen den Parteien zutreffend nicht in Streit.
  174. c)
    Die Beklagten verletzen durch Angebot und Vertrieb der angegriffene Ausführungsformen I und II Anspruch 1 des Klagepatents unmittelbar wortsinngemäß (§ 9 S. 2 Nr. 1 PatG). In Bezug auf die angegriffenen Ausführungsformen I und II sind Benutzungshandlungen der Beklagten unstreitig.
  175. Ob die Beklagten darüber hinaus auch Produkte der F-Reihe in Deutschland angeboten und vertrieben haben, kann dahinstehen, da dies für die beantragten Rechtsfolgen keinen Unterschied macht. Die Klägerin hat bereits Verletzungshandlungen mittels der Produkte der D-Reihe dargetan, so dass es der Feststellung einer Verletzungshandlung in Bezug auf die F-Produkte hier nicht bedurfte. Da F-Produkte mit Blick auf die Merkmale von Patentanspruch 1 denen der D-Reihe entsprechen, fallen auch deren Angebot und Vertrieb unter den Tenor des hiesigen Urteils und wären entsprechend auch etwa auskunfts- und schadensersatzpflichtig.
  176. Die Beklagten verletzen Anspruch 25 auch unmittelbar wortsinngemäß durch das Angebot und den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform II (Kits), allerdings nur soweit nicht Kits der F-Reihe betroffen sind. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagten Kits der F-Reihe in Deutschland angeboten und vertrieben haben, da Ansprüche insoweit mit Hinblick auf Anspruch 25 ohnehin nicht bestehen würden, da bei den F-Produkten keine Markierung im Sinne von Unteranspruch 6, auf den Anspruch 25 verweist, vorhanden ist.
  177. 4.
    Daneben verletzen die Beklagten durch Angebot und Liefern der angegriffenen Ausführungsformen I und II, soweit nicht die F-Reihe betroffen ist, sowie der angegriffenen Ausführungsformen III (Sequenzierer) die Verfahrensansprüche 12 und 17 des Klagepatents mittelbar gemäß § 10 Abs. 1 PatG (hierzu unter a)). Daneben wird Erzeugnisanspruch 29 des Klagepatents durch Anbieten und Liefern von allen angegriffenen Ausführungsformen (I bis III) mittelbar verwirklicht, also auch soweit Produkte der F-Reihe betroffen sind (hierzu unter b)).
  178. a)
    Die angegriffenen Ausführungsformen stellen jeweils Mittel dar, die sich auf ein wesentliches Element der Erfindung gemäß der Ansprüche 12 und 17 im Sinne von § 10 PatG beziehen. Diese Ansprüche betreffen Verfahren zum Kontrollieren des Einbaus eines wie in einem der Ansprüche 6 bis 10 definierten und zu einem zweiten Nucleotid in einem einzelsträngigen Ziel-Polynucleotid komplementären Nucleotids bei einer Synthese- oder Sequenzierreaktion (Anspruch 12) bzw. zum Bestimmen der Sequenz eines einzelsträngigen Ziel-Polynucleotids (Anspruch 17).
  179. Die angegriffene Ausführungsform III ist objektiv dazu geeignet, für die klagepatentgemäßen Verfahren nach diesen Ansprüchen 12 und 17 verwendet zu werden. Zur Durchführung dieses Verfahrens können die angegriffenen Ausführungsformen I und II mit Markierungen verwendet werden, bei denen es sich um die in den Ansprüchen 12 und 17 in Bezug genommenen Nucleotiden handelt, so dass auch insoweit die objektive Eignung vorliegt. Dem sind die Beklagten jedenfalls hinsichtlich der Verwendung der angegriffenen Ausführungsformen III mit Reagenzien der D-Reihe (angegriffenen Ausführungsformen I und II) nicht entgegen getreten, so dass weitere Ausführungen entbehrlich sind.
  180. b)
    Der unabhängige Patentanspruch 29 verlangt ein Oligonucleotid, umfassend ein modifiziertes Nucleotid nach den Ansprüchen 1 bis 11. Oligonucleotide bestehen aus mehreren Nucleotiden, wobei nach Anspruch 29 mindestens eines dieser Nucleotide jedenfalls Anspruch 1 des Klagepatents verwirklichen muss. Da Patentanspruch 29 – anders als die Ansprüche 12 und 17 – unmittelbar auf Patentanspruch 1 verweist, muss das vom Oligonucleotid umfasste modifizierte Nucleotid nicht Markierungen gemäß Unteranspruch 6 aufweisen. Der Vortrag der Beklagten, auch Anspruch 29 setze eine Markierung voraus (S. 2 der Duplik) ist unzutreffend.
  181. Die angegriffenen Ausführungsformen (I bis III) sind jeweils Mittel, die sich auf wesentliche Mittel der Erfindung gemäß Patentanspruch 29 beziehen. Die Klägerin hat unwidersprochen vorgetragen, dass bei der Durchführung des SBS-Verfahrens in den angegriffenen Ausführungsformen III Oligonucleotide gemäß Anspruch 29 hergestellt werden. Zu einer solchen Herstellung der beanspruchten Oligonucleotide können insbesondere die modifizierten Nucleotide in den angegriffenen Ausführungsformen I und II verwendet werden. Dem sind die Beklagten nicht erheblich entgegen getreten. Soweit sie meinen, die angegriffenen Kits enthielten keine Oligonucleotide, greift dies nicht durch, da die Klägerin nur eine mittelbare Verletzung von Anspruch 29 geltend macht. Entsprechend nach § 10 Abs. 1 PatG muss kein Oligonucleotid geliefert oder angeboten werden, sondern nur ein Mittel, dass sich auf ein wesentliches Element bezieht.
  182. Eine mittelbare Patentverletzung setzt im Übrigen keine unmittelbare Verletzung des Patents durch einen Dritten voraus (BGH, GRUR 2001, 228 – Luftheizgerät; Werner in: Busse/Keukenschrijver, PatG, 9. Aufl. 2020, § 10 Rn. 4). Aus diesem Grunde ist nicht erforderlich, dass die Klägerin konkret aufzeigt, dass bei den Abnehmern tatsächlich Oligonucleotide nach Anspruch 29 hergestellt worden sind. Vielmehr reicht es aus, dass sie den Abnehmern die entsprechenden Mittel hierfür geliefert hat und die übrigen Voraussetzungen der mittelbaren Patentverletzung gegeben sind.
  183. c)
    Diese übrigen Voraussetzungen der mittelbaren Patentverletzung liegen für die angegriffenen Ausführungsformen im Hinblick auf die Ansprüche 12, 17 und 29 vor.
  184. aa)
    Der erforderliche doppelte Inlandsbezug liegt vor. Die Beklagten haben die angegriffene Ausführungsform III in Deutschland sowohl angeboten als auch in das Inland geliefert, wobei die Benutzung der angegriffenen Ausführungsform III zusammen mit den Nukleotiden in den angegriffenen Ausführungsformen I und II zur Durchführung der Sequenzierungsverfahren durch die Abnehmer in Deutschland erfolgt.
  185. bb)
    § 10 Abs. 1 PatG setzt in subjektiver Hinsicht voraus, dass der Lieferant die Eignung des Mittels und seine Verwendungsbestimmung kennt bzw. aufgrund der Umstände offensichtlich ist, dass die angebotenen und/oder gelieferten Mittel dazu geeignet und bestimmt sind, für die Benutzung der geschützten Erfindung verwendet zu werden (BGH, GRUR 2006, 839 – Deckenheizung; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13.02.2014, I-2 U 93/12 – Folientransfermaschine). Bei objektiver Betrachtung muss aus Sicht des Liefernden die hinreichend sichere Erwartung bestehen, dass der Abnehmer die angebotenen oder gelieferten Mittel zur patentverletzenden Verwendung bestimmen wird (BGH, GRUR 2006, 839 – Deckenheizung; GRUR 2007, 679 – Haubenstretchautomat).
  186. Aus den Umständen ist offensichtlich, dass aus Sicht der Beklagten die Abnehmer die angegriffene Ausführungsformen (I bis III) zur Durchführung der anspruchsgemäßen Sequenzierverfahren einsetzen, was zur unmittelbaren Verwirklichung der Patentansprüche 12, 17 und 29 führt. Dem sind die Beklagten nicht entgegengetreten. Abgesehen davon ist nicht ersichtlich, dass die angegriffenen Ausführungsformen für einen anderen Einsatz als das Durchführen von Sequenzierungsverfahren bzw. Sequenzreaktion geeignet sind.
  187. II.
    Aus den vorstehend festgestellten Rechtsfolgen ergeben sich die zuerkannten Rechtsfolgen:
  188. 1.
    Der Unterlassungsanspruch ergibt sich aus Art. 64 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 PatG.
  189. Hinsichtlich der mittelbaren Patentverletzung durch die angegriffene Ausführungsform III (Sequenzierer) war den Beklagten das Angebot und der Vertrieb ohne Einschränkungen zu untersagen.
  190. a)
    Zwar hat eine mittelbare Patentverletzung nicht in jedem Fall eine unbedingte Unterlassungsverurteilung (Schlechthinverbot) zur Folge. Diese kann grundsätzlich nur durchgesetzt werden, wenn das angebotene oder gelieferte Mittel technisch und wirtschaftlich sinnvoll ausschließlich in patentverletzender Weise (und nicht anders) verwendet werden kann (OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.07.2018 – I-2 U 46/15 = BeckRS 2018, 23979). Kommt eine patentfreie Nutzungsmöglichkeit in Betracht, sind regelmäßig nur eingeschränkte Verbote gerechtfertigt, die sicherstellen, dass einerseits der wirtschaftliche Verkehr mit dem angegriffenen Gegenstand außerhalb des Schutzrechts unbeeinträchtigt bleibt und andererseits der unmittelbar patentverletzende Gebrauch durch den Abnehmer mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen wird (BGH, GRUR 2004, 758 – Flügelradzähler; GRUR 2006, 839 – Deckenheizung; GRUR 2007, 679 – Haubenstretchautomat). Eine Verwendungsmöglichkeit hat allerdings außer Betracht zu bleiben, wenn der Kläger geltend machen kann, dass mit ihr widerrechtlich von einem weiteren Patent desselben Schutzrechtsinhabers oder einem anderen Patentanspruch des Klagepatents Gebrauch gemacht wird. Dass das (weitere) Schutzrecht oder der anderweitige Patentanspruch möglicherweise nicht rechtsbeständig sind, so dass aus dem derzeit noch widerrechtlichen Gebrauch demnächst (rückwirkend) ein rechtmäßiger werden kann, hat keine Bedeutung, solange nicht entweder da-hingehende unverrückbare Tatsachen geschaffen sind, indem der Anspruch oder das Schutzrecht rechtskräftig vernichtet wird, oder eine zweifelsfreie Vernichtungslage nachgewiesen und ein laufender oder bevorstehender Rechtsbestandsangriff absehbar ist (OLG Düsseldorf, Urteil vom 30.09.2021 – I-2 U 52/20).
  191. b)
    Eine diesen Anforderungen genügende patentfreie Nutzungsmöglichkeit der angegriffenen Ausführungsform III haben die Beklagten nicht aufgezeigt.
  192. aa)
    Die einzigen derzeit erhältlichen Reagenzien, die neben der D-Reihe für die Verwendung mit den angegriffenen Sequenzieren geeignet wären, sind die Reagenzien der F-Reihe. Wie oben dargelegt, verletzt die Benutzung dieser Reagenzien jedoch Anspruch 1 des Klagepatents, so dass es den Beklagten rechtlich verwehrt ist, ihre Kunden auf diese Reagenzien zu verweisen.
  193. Zu dem maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung kann nicht abgesehen werden, dass sich mit Hilfe anderer Reagenzien eine wirtschaftlich und technisch sinnvolle, patentfreie Nutzungsmöglichkeit der angegriffenen Ausführungsform III ergeben könnte. Eine solche Nutzungsmöglichkeit lässt sich nicht aus bestrittenen und nicht näher dargelegten Aussagen der Klägerin in einem britischen Parallelverfahren ersehen. Es bleibt unklar, in Bezug auf welche Produkte eine patentfreie Nutzungsmöglichkeit hier bestehen soll. Auch kommt es insofern nicht entscheidend auf die Aussagen der Klägerin an, sondern auf das tatsächliche Vorhandensein einer Alternative, welche von den Beklagten nicht ansatzweise substantiiert dargelegt wurde. Soweit sie auf andere, in der Entwicklung befindliche Reagenzien verweist, sind diese unstreitig derzeit nicht erhältlich. Die bloße Möglichkeit einer technischen Entwicklung – deren Ausgestaltung nicht im Ansatz vorgetragen wurde – begründet keine für die Frage des Schlechthinverbots zu berücksichtigende alternative Nutzungsmöglichkeit.
  194. bb)
    Ein Schlechthinverbot ist unabhängig davon auch deshalb auszusprechen, da die Verwendung der F-Reagenzien in den angegriffenen Ausführungsformen III nicht nur Anspruch 1 verletzt, sondern auch zu einer unmittelbaren Patentverletzung von Anspruch 29 führt. Im Gegensatz zu den Ansprüchen 12 und 17 ist Patentanspruch 29 unmittelbar auf Anspruch 1 zurückbezogen und setzt damit nicht voraus, dass ein Nucleotid im Oligonucleotid markiert ist.
  195. cc)
    Aus diesem Grunde hat auch hinsichtlich der mittelbaren Verletzung von Anspruch 29 selbst durch die angegriffenen Ausführungsformen III ein Schlechthinverbot zu ergehen.
  196. c)
    Ein Schlechthinverbot war auch hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsformen I und II auszusprechen soweit eine mittelbare Verletzung der Ansprüche 12 und 17 betroffen ist. Für die angegriffenen Ausführungsformen mit Nucleotiden der D-Reihe, die Markierungen aufweisen, ist keine alternative patentfreie Verwendungsmöglichkeit ersichtlich, so dass keine Einschränkung erforderlich war. Die Produkte der F-Reihe fallen dagegen nicht unter die Verurteilung aus den Ansprüchen 12 und 17, so dass insoweit auch keine Einschränkung des Tenors vorzusehen war.

    Hinsichtlich der mittelbaren Verletzung von Anspruch 29 war ebenfalls ein Schlechthinverbot zu erlassen, da sämtliche angegriffene Ausführungsformen I und II diesen Anspruch mittelbar verwirklichen und eine patentfreie Alternativnutzung nicht ersichtlich ist.

  197. 2.
    Des Weiteren hat die Klägerin gegen die Beklagten einen Anspruch auf Schadens-ersatz aus Art. 64 EPÜ i. V. m. § 139 Abs. 2 PatG. Als Fachunternehmen hätten die Beklagten die Patentverletzung bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erkennen können, § 276 BGB.
  198. a)
    Die genaue Schadenshöhe steht derzeit noch nicht fest. Da es jedoch hinreichend wahrscheinlich ist, dass der Klägerin durch die unmittelbar patentverletzenden Handlungen der Beklagten ein Schaden entstanden ist, der von der Klägerin noch nicht beziffert werden kann, weil sie ohne eigenes Verschulden in Unkenntnis über den Umfang der Verletzungshandlungen ist, ist ein rechtliches Interesse der Klägerin an einer Feststellung der Schadenersatzverpflichtung dem Grunde nach anzuerkennen, § 256 ZPO.
  199. b)
    Die Klägerin hat gegen die Beklagten zudem einen Schadensersatzanspruch soweit eine Verurteilung wegen mittelbarer Patentverletzung erfolgt. Der mittelbare Verletzer hat denjenigen Schaden zu ersetzen, der dem Patentinhaber durch die unmittelbare Patentverletzung entsteht. Ausreichend für eine schlüssige Darlegung eines Schadensersatzanspruches ist es, wenn nach der Lebenserfahrung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer unter Verwendung des Mittels begangenen Verletzungshandlung besteht (BGH, GRUR 2013, 713 – Fräsverfahren; BGH, GRUR 2006, 839 – Deckenheizung). Im vorliegenden Fall sprechen die von den Beklagten jeweils vorgenommenen Lieferungen dafür, dass die angegriffenen Ausführungsformen tatsächlich für die Sequenzierungsverfahren eingesetzt werden.
  200. 3.
    Damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, die ihr zustehenden Schadensersatzansprüche beziffern zu können, schulden die Beklagten im zuerkannten Umfang Rechnungslegung (§§ 242, 259 BGB). Die Klägerin ist auf die Angaben angewiesen, über die sei ohne eigenes Verschulden nicht verfügt; die Beklagten werden durch die von ihr verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet.
  201. 4.
    Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und die Vertriebswege der angegriffenen Ausführungsformen ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstands unmittelbar aus Art. 64 EPÜ i. V. m. § 140b Abs. 1 PatG, der Umfang der Auskunftspflicht aus Art. 64 EPÜ i. V. m. § 140b Abs. 3 PatG.
  202. 5.
    Weiterhin hat die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rückruf der (auch) unmittelbar patentverletzenden angegriffenen Ausführungsformen I und II aus den Vertriebswegen gemäß Art. 64 EPÜ i. V. m. § 140a Abs. 3 PatG. Eine Unverhältnismäßigkeit im Sinne von § 140a Abs. 4 PatG ist nicht ersichtlich.
  203. 6.
    Die Klägerin hat gegen die Beklagten aus Art. 64 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 2 PatG jeweils einen Anspruch auf Zahlung von EUR 8.503,40, die der Klägerin als Anwaltskosten für die Abmahnung aus dem Klagepatent entstanden sind.
  204. a)
    Die Klägerin kann für beide Abmahnungen (Analgen rop 10/10a bzw. rop 12/12a) Anwaltsgebühren jeweils aus dem vollen Gegenstandswert verlangen. Die Klägerin ist in dem auch für die Erstattungspflicht maßgeblichen Innenverhältnis zu ihren Prozessbevollmächtigten (vgl. BGH, GRUR 2019, 763 – Ermittlungen gegen Schauspielerin) zur Zahlung der in Rechnung gestellten Kosten für beide Abmahnungen verpflichtet. Entgegen der Auffassung der Beklagten stellen die beiden, jeweils gegen eine der Beklagten gerichteten Abmahnungen nicht dieselbe Angelegenheit der anwaltlichen Tätigkeit dar.
  205. aa)
    Eine Tätigkeit in derselben Angelegenheit kann auch dann vorliegen, wenn der Rechtsanwalt einheitlich mit der Abwehr von Verletzungshandlungen verschiedener Schädiger beauftragt wird (vgl. BGH, GRUR 2019, 763 – Ermittlungen gegen Schauspielerin). Ob dies der Fall ist, lässt sich nicht allgemein, sondern nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände beantworten, wobei insbesondere der Inhalt des erteilten Auftrags maßgebend ist (BGH, GRUR 2019, 763 Rn. 15 – Ermittlungen gegen Schauspielerin; BGH, GRUR 2011, 268 Rn. 16 – Druckerzeugnis und Online-Berichterstattung). Weisungsgemäß erbrachte anwaltliche Leistungen betreffen in der Regel dieselbe Angelegenheit, wenn zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang besteht und sie sowohl inhaltlich als auch in der Zielsetzung so weitgehend übereinstimmen, dass von einem einheitlichen Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit gesprochen werden kann (BGH, GRUR 2019, 763 Rn. 17 – Ermittlungen gegen Schauspielerin; BGH, GRUR-RR 2010, 269 Rn. 23 – Rosenkrieg). Eine Angelegenheit kann auch vorliegen, wenn ein dem Rechtsanwalt zunächst erteilter Auftrag vor dessen Beendigung später ergänzt wird. Ob eine Ergänzung des ursprünglichen Auftrags vorliegt oder ein neuer Auftrag erteilt wurde, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen (BGH, GRUR 2019, 1044 Rn. 25 – Novembermann). Der verfahrensrechtliche Zusammenhang wird nicht dadurch gesprengt, dass bei einem außergerichtlichen Vorgehen gegen verschiedene Rechtsverletzer an jeden Adressaten ein eigenes Abmahnschreiben zu richten ist. Dies gilt insbesondere bei der Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen gegenüber Rechtsverletzern, denen eine gleichgerichtete Verletzungshandlung vorzuwerfen ist, so dass die erforderlichen Abmahnungen einen identischen oder zumindest weitgehend identischen Inhalt haben (BGH, GRUR 2019, 1044 Rn. 31 m.w.N. – Novembermann).
  206. bb)
    Nach diesen Maßgaben liegt hier hinsichtlich der beiden Abmahnungen keine einheitliche Angelegenheit vor. Zwar gehören die beiden abgemahnten Beklagten demselben Konzern an und die Abmahnung erfolgte aus demselben Schutzrecht (dem Klagepatent), wobei der Text der Abmahnung nahezu identisch ist. Jedoch hat der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vom 22.03.2022 unwidersprochen vorgetragen, dem Vorgehen habe kein einheitlicher Auftrag zugrunde gelegen, sondern es seien separate Aufträge erteilt worden. Auch lag zwischen den Abmahnungen ein Zeitraum von knapp drei Monaten, da die Abmahnung gegenüber der Beklagten zu 1) am 23.06.2020 (vgl. Anlage rop 12) erfolgte, während die gegenüber der Beklagten zu 2) auf dem 31.03.2020 (vgl. Anlage rop 10) datiert. Bereits dieser Zeitraum stellt ein Indiz gegen eine einheitliche Angelegenheit dar. Weiterhin bestanden Unterschiede in den Verletzungshandlungen, die in jeweils eigenständigen Vertriebshandlungen der Beklagten bestanden.
  207. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es in der Entscheidung „Novembermann“ (BGH, GRUR 2019, 1044) um ein Vorgehen gegen aus derselben Quelle stammende Vervielfältigungsstücke desselben Werkes ging, während die Entscheidung „Ermittlung gegen Schauspielerin“ (BGH, GRUR 2019, 763) übereinstimmende Folgeberichterstattungen zum Gegenstand hatte. Wenngleich die vom BGH zur Beurteilung einer einheitlichen Angelegenheit aufgestellten Grundsätze auch im Patentrecht gelten (vgl. Kühnen, Hdb. der Patentverletzung, 14. Aufl. 2022, Kap. C. Rn. 60), so ist im Rahmen der vom BGH vorgeschriebenen Einzelfallbeurteilung die gegenüber den entschiedenen Fällen gesteigerte Komplexität des vorliegenden Patentverletzungsfalls einzubeziehen. Auch dies spricht gegen das Vorliegen einer einheitlichen Angelegenheit.
  208. b)
    Die zuerkannten Beträge ergeben sich jeweils gemäß dem RVG a.F. aus einer 1,8 Geschäftsgebühr basierend auf einem Gegenstandswert von EUR 1.000.000,00 (= EUR 8.483,40) zuzüglich EUR 20,00 Auslagenpauschale. Die angesetzte Gebührenhöhe von 1,8 erscheint nicht unangemessen. Soweit ein Sachverhalt vorliegt, der aufgrund des Umfangs oder der Schwierigkeit beim Tätigwerden des Rechtsanwalts ein Übersteigen der Regelgebühr von 1,3 zulässt, ist dem Rechtsanwalt ein Ermessen bei der Gebührenfestsetzung in einem Toleranzbereich von 20 % einzuräumen (BGH, GRUR-RR 2012, 491 – Toleranzbereich). Ein Übersteigen der 1,3 Gebühr ist hier zulässig, da es sich um einen Patentverletzungsstreitfall handelt, der auch nicht ausnahmsweise völlig unkompliziert ist. Unter Berücksichtigung des Ermessenspielraums bei der Festsetzung der Geschäftsgebühr erscheint eine 1,8 Gebühr nicht unangemessen überhöht.
  209. c)
    Der geltend gemachte Zinsanspruch ab Rechtshängigkeit (vgl. die Zustellungsurkunden auf Bl. 111 ff GA und Bl. 115 ff. GA) auf die zuerkannten Beträge ergibt sich aus §§ 291, 288 BGB.
  210. III.
    Im Rahmen des der Kammer nach § 148 ZPO zustehenden Ermessens wird die Verhandlung nicht im Hinblick auf das Nichtigkeitsverfahren gegen das Klagepatent ausgesetzt.
  211. 1.
    Nach § 148 ZPO kann das Gericht bei der Vorgreiflichkeit eines anderen Verfahrens einen Rechtsstreit aussetzen. Die Vorgreiflichkeit ist aufgrund der angenommenen Verletzung des Schutzrechtes hinsichtlich des anhängigen Nichtigkeitsverfahrens gegeben. Die Erhebung einer Nichtigkeitsklage stellt ohne weiteres noch keinen Grund dar, den Verletzungsrechtsstreit auszusetzen. Die Patenterteilung ist für die (Verletzungs-) Gerichte bindend. Wegen der gesetzlichen Regelung, die für die Ansprüche nach §§ 139 ff. PatG lediglich ein in Kraft stehendes Patent verlangt und für die Beseitigung dieser Rechtsposition nur die in die ausschließliche Zuständigkeit des Patentgerichts fallende Nichtigkeitsklage oder den Einspruch vor dem jeweiligen Patentamt zur Verfügung stellt, kann der Angriff gegen das Klagepatent nicht als Einwand im Verletzungsverfahren geführt werden. Jedoch darf dies nicht dazu führen, dass diesem Angriff jede Auswirkung auf das Verletzungsverfahren versagt wird. Die Aussetzung des Verletzungsstreits im Rahmen der nach § 148 ZPO zu treffenden Ermessenentscheidung ist vielmehr grundsätzlich, aber auch nur dann geboten, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass das Klagepatent der erhobenen Nichtigkeitsklage oder dem erhobenen Einspruch nicht standhalten wird (BGH, GRUR 2014, 1237, 1238 – Kurznachrichten; OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.06.2015 – I-2 U 64/14).
  212. Wurde das Klagepatent bereits in einem Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren erstinstanzlich bestätigt – was hier sogar kumulativ der Fall ist – hat das Verletzungsgericht grundsätzlich die von der zuständigen Fachinstanz (DPMA, EPA, BPatG) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Klagepatents hinzunehmen. Eine Veranlassung, die parallele Rechtsbestandsentscheidung in Zweifel zu ziehen und von einer Verurteilung vorerst abzusehen, besteht allenfalls dann, wenn das Verletzungsgericht die Argumentation der Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz für nicht vertretbar hält oder wenn der Angriff auf den Rechtsbestand nunmehr auf (z. B. neue) erfolgversprechende Gesichtspunkte gestützt wird, die die bisher mit der Sache befassten Stellen noch nicht berücksichtigt und beschieden haben (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 08.04.2021 – I-2 U 13/20 = GRUR-RS 2021, 8206; OLG Düsseldorf, Urteil vom 17.10.2019 – I-2 U 11/18 = BeckRS 2019, 31342). Ersteres mag etwa gelten, wenn Passagen einer Entgegenhaltung von der Einspruchsabteilung oder dem Bundespatentgericht übersehen und deshalb bei der Entscheidungsfindung überhaupt nicht in Erwägung gezogen worden sind, so dass sich das Verletzungsgericht mit einer Aussetzung nicht in Widerspruch zur fachkundigen Entscheidung der Instanz im Rechtsbestandsverfahren setzen würde. Aber auch dann ist es für eine Aussetzung erforderlich, dass das Verletzungsgericht aufgrund des Vortrags der Beklagten eine hinreichende Vernichtungswahrscheinlichkeit prognostizieren kann, da dies auch ohne erstinstanzliche Rechtsbestandsbestätigung Voraussetzung einer Aussetzung wäre.
  213. Dagegen kann eine Aussetzung bei erstinstanzlicher Bestätigung des Rechtsbestands prinzipiell nicht erfolgen, weil das Verletzungsgericht seine eigene (laienhafte) Bewertung des technischen Sachverhalts an die Stelle der Beurteilung durch die zuständige Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz setzt. Solches verbietet sich ganz besonders dann, wenn es sich – wie hier – um eine technisch komplexe Materie handelt, in Bezug auf die die Einsichten und Beurteilungsmöglichkeiten des technisch nicht vorgebildeten Verletzungsgerichts von vornherein limitiert sind (OLG Düsseldorf, Urteil vom 30.09.2021 – I–2 U 52/20 = GRUR-RS 2021, 32045). Dreht sich der Streit der Parteien in technisch hochkomplexen Fällen darum, welche technische Information einem im Rechtsbestandsverfahren gewürdigten Text aus fachmännischer Sicht zu entnehmen ist und welche Schlussfolgerungen der Durchschnittsfachmann hieraus aufgrund seines allgemeinen Wissens ziehen konnte oder welche verschiedener Schriften er kombiniert hätte, darf sich das Verletzungsgericht nicht über die Bewertung der fachkundigen, für den Rechtsbestand zuständigen Stelle hinwegsetzen und dem Kläger die Durchsetzung seines Schutzrechts durch eine Aussetzung zumindest zeitweise verwehren (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 30.09.2021 – I–2 U 52/20 = GRUR-RS 2021, 32045).
  214. Im hiesigen Fall kommt erschwerend hinzu, dass die Beklagten den Rechtsbestand nur unter dem Gesichtspunkt der fehlenden erfinderischen Tätigkeit angreifen. Hierbei handelt es sich regelmäßig um eine Wertungsfrage, welche das Verletzungsgericht kaum besser beurteilen kann als das fachkundige Bundespatentgericht. Eine Aussetzung des Nichtigkeitsgrunds der fehlenden Erfindungshöhe kommt bereits ohne erstinstanzliche Bestätigung des Rechtsbestand nur dann in Betracht, wenn sich für die Annahme der erfinderischen Tätigkeit kein vernünftiges Argument mehr finden lässt (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2007, 259, 262 – Thermocycler; LG Düsseldorf, BeckRS 2013, 14797).
  215. Weiterhin ist zu beachten, dass zusätzlich und unabhängig von der Entscheidung des Bundespatentgerichts auch die Einspruchsabteilung das Klagepatent aufrechterhalten hat. Mit einer Aussetzung der hiesigen Verhandlung würde sich also die Kammer gegen die Entscheidungen zweier fachkundiger Instanzen stellen. Schließlich haben die Beklagten selbst ausgeführt, die verlängerte Frist zur Begründung ihrer Nichtigkeitsberufung gegen das Urteil des Bundespatentgerichts vollständig ausnutzen zu müssen, da es sich um eine technisch hochkomplexe Sache handelt. Die kursorischen Ausführungen in der Duplik (im hiesigen Verfahren) führen nicht dazu, dass die nicht mit Technikern besetzte Kammer eine Unvertretbarkeit der Entscheidung des Bundespatentgerichts zu erkennen vermag.
  216. 2.
    Die Beklagten haben keinen aus Sicht des Verletzungsgerichts unvertretbaren Fehler in der Entscheidung des Bundespatengerichts aufgezeigt, der die Bestätigung des Rechtsbestands des Klagepatents in Frage stellen könnte.
  217. a)
    In den Ausführungen des Bundespatentgerichts lässt sich schon kein Fehler hinsichtlich des Offenbarungsgehalts der Entgegenhaltung NiK11 (Ju, Anlage B5-NiK11) erkennen. Diese rät vom Einsatz elektrophiler Schutzgruppen wie Estern und Ketonen ab, da diese durch starke Nucleophile im aktiven Zentrum der Polymerase nahe der 3’- Substituenten gespalten würden (S. 17 BPatGU). Schutzgruppen werden in der NiK 11 nicht angesprochen. Das Bundespatentgericht ist in nachvollziehbarer Weise der Ansicht, dass die NiK 11 aus fachlicher Sicht kein stringentes Auswahlkriterium liefert und selbst bei einer möglichen Vorauswahl auf die Etherschutzgruppen der Fachmann erkennt, dass diese nukleophilen Angriffen eher nicht zugänglich sind (S. 18 BPatG). Hieraus folgert das Bundespatentgericht, dass sich aus der NiK11 keine Veranlassung ergibt, Schutzgruppentypen mit Elektrophilen aufzugreifen und aufgabenmäßig einzusetzen (S. 18 BPatGU).
  218. aa)
    Nach den obigen Grundsätzen ist es der Kammer bereits verwehrt, auf die Begründung der Beklagten, eine solche Verallgemeinerung verbiete sich, eine Aussetzung zu stützen. Denn die Ausführungen des Bundespatentgerichts als zuständige Nichtigkeitsinstanz stellen die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit dar, welche die Kammer weder mit ihrer noch mit der Bewertung der Beklagten beliebig austauschen kann. Hinzu tritt, dass die Kammer darüber hinaus nicht ersehen kann, dass diese Verallgemeinerung unzutreffend sein sollte. Dass der Fachmann – wie die Beklagten meinen – niemals eine Azdiogruppe unter ein Elektrophil, wie zum Beispiel die Ketongruppe, subsummiert hätte, erschließt sich nicht. Ferner ist nichts dafür ersichtlich, dass das Bundespatentgericht den Vortrag der Beklagten (als Nichtigkeitsklägerin) ignoriert oder übersehen hätte. Mit den Ausführungen, weswegen der Fachmann ausgehend von der NiK 11 dennoch eine Azidomethylgruppe in Betracht gezogen hätte, setzen die Beklagten letztlich nur ihre Ansicht an die Stelle der des Bundespatentgerichts.
  219. bb)
    Die Beklagten haben sich in der mündlichen Verhandlung vom 22.03.2022 insbesondere darauf berufen, dass das Urteil des Bundespatentgerichts falsch sei, soweit es hierin mit der Wittig-Reaktion begründet habe, dass es in der Polymerase starke Nukleophile gebe, die die Azidogruppe angreifen könnten (was von der Lehre des Klagepatents wegführt) und sich hierbei auf die NiK 69 gestützt hat (vgl. S. 20 f. BPatGU). Entgegen der Ansicht des Bundespatentgerichts werde in der NiK 69 kein Triphenylphosphin entsprechend genutzt. Abgesehen davon, dass eine bloße Fehlerhaftigkeit angesichts des genannten Maßstabs nicht ausreichend wäre, können die Beklagten mit ihrer Argumentation eine Unvertretbarkeit des Urteils nicht begründen. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass das Bundespatentgericht diesen Punkt übersehen oder ignoriert hat. Vielmehr wurde die Reaktion der Azidogruppe mit Phosphinen in der Wittig-Reaktion bereits im Nichtigkeitsverfahren schriftsätzlich diskutiert und war Gegenstand des Vorbescheids des Bundespatentgerichts (vgl. S. 6 a.E. Anlage B 1). Auch ist dieser Punkt nach dem unwidersprochenen Vortrag der Klägerin in der (hiesigen) mündlichen Verhandlung vom 22.03.2022 in der Nichtigkeitsverhandlung vor dem Bundespatentgericht diskutiert worden. Es ist daher mindestens genauso wahrscheinlich, dass das Bundespatentgericht die Argumentation gewürdigt und den Einwand der Beklagten für nicht durchgreifend gehalten hat.
  220. Im Übrigen wäre – selbst wenn das BPatG in diesem Punkt ein Fehler unterlaufen wäre – immer noch kein Naheliegen erkennbar. Es handelt es sich nur um eine von mehreren Erwägungen, warum der Fachmann ausgehend von Ju (NiK 11) nicht zur Azidomethylgruppe gekommen wäre. Es würde nur ein Mosaikstein wegfallen, der Rest des „Bildes“ bliebe unverändert. So hat sich das Bundespatentgericht neben der angesprochenen Vorauswahl auch darauf gestützt, dass gegen die Heranziehung der Azidomethylgruppe auch spricht, dass der Azidteil länger und sperriger ist als die MOM- und Allyl-Gruppe (S. 24 Abs. 1 BPatGU).
  221. cc)
    Auch erscheinen die vom Fachmann nach Ansicht der Beklagten vorzunehmenden Gedankengänge, um aus der Nik11 kein Weglehren von Azidomethylgruppe herzuleiten, komplex, so dass selbst aus der laienhaften Sicht der Kammer zweifelhaft ist, ob der Fachmann diese allesamt aus seinem allgemeinen Fachwissen heraus vorgenommen und sich nicht doch auf dem Weg zur Lösung erfinderisch betätigt hätte.
  222. b)
    Selbst wenn man einmal unterstellt, dass der Fachmann nicht durch die NiK 11 von der Verwendung einer Azidomethylgruppe abgehalten worden wäre, kann die Kammer nicht ersehen, dass die Lehre des Klagepatents nahegelegt war. So wäre ausgehend von der Entgegenhaltungen NiK 26 (Zavogordny) das weitere Hindernis zu überwinden gewesen, dass diese Nucleoside und nicht Nucleotide betrifft (vgl. S. 26 BPatGU).
  223. c)
    Soweit die Beklagten hinsichtlich der weiteren Ausführungen des Bundespatentgericht auf ihren vor Erlass des Urteils getätigten Vortrag verweisen (S. 7 Rn. 30 DU = Bl. 290 GA) ist dies per se nicht ausreichend, um eine unvertretbare Entscheidung des Bundespatentgerichts begründen zu können.
  224. IV.
    Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO. Das Unterliegen der Klägerin betrifft nur den zurückgenommenen Vernichtungsanspruch und war daher verhältnismäßig geringfügig.
  225. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO. Auf Antrag der Klägerin waren Teilsicherheiten für die vorläufige Vollstreckung der einzelnen Ansprüche festzusetzen (§ 108 Abs. 1 ZPO).
  226. V.
    Der Streitwert wird auf EUR 2.500.000,00 festgesetzt.

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